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Politik: „Lieber Grundsätze als Steuersätze“ Bundestagspräsident Norbert Lammert über sein Amt

und das Verhältnis von Leit- und Multikulturalismus

Herr Lammert, Sie sind doch gerne in der Partei, oder?

Ja. Nicht immer, aber im Prinzip schon.

Warum wollten Sie dann ein eher überparteiliches Amt?

Ich bin jetzt fast vierzig Jahre Mitglied der CDU, davon 25 Jahre hauptberuflich in der Politik. Für mich als Parlamentarier mit Leib und Seele gibt es kein bedeutenderes, jedenfalls kein schöneres Amt als das des Präsidenten des Deutschen Bundestags. Im Übrigen verabschiede ich mich ja nicht aus der operativen Politik, ich lege mir nur Beschränkungen auf. Mir geht es ohnehin mehr um Grundsatzfragen und nicht so sehr um den aktuellen Streit über diesen oder jenen Steuersatz.

So ganz überparteilich ist das Amt nicht, wenn der Inhaber nicht alle Parteiämter loswerden muss.

Mit diesem Amt verbindet sich die Erwartung des Bundestages, dass der Präsident seine Aufgaben und Verpflichtungen unparteiisch, fair und gerecht wahrnimmt. Das ist möglich, aber nicht immer einfach. Ich halte es zum Beispiel für eine gut gemeinte, aber verunglückte Konstruktion, dass der Präsident des Bundestages, der nach wie vor auch als Repräsentant seiner Partei wahrgenommen wird, zugleich oberster Schiedsrichter bei Streitfragen der Parteienfinanzierung ist und sich hier bei jeder konkreten Entscheidung immer dem Verdacht mindestens der Befangenheit aussetzt. Deswegen bin ich wie mein Amtsvorgänger sehr dafür, noch mal nachzudenken, ob sich nicht intelligentere Lösungen finden lassen.

In der Logik Ihrer Argumentation müsste der Bundestag dann ja auch darauf verzichten, die Diäten selber festzulegen.

Ja. Solange der Deutsche Bundestag die Bezüge seiner Mitglieder selber regeln muss, setzt er sich unvermeidlich dem Verdacht der Selbstbegünstigung aus.

Sie bleiben auch als Parlamentspräsident Vorsitzender der CDU Ruhrgebiet. Was spricht eigentlich dagegen, dass der Vorsitzende der Linkspartei Vizepräsident wird?

Ob ein Kandidat ins Präsidium gewählt wird oder nicht, ist die souveräne Entscheidung jedes Mitglieds des Bundestages. Und alles, was ich höre, deutet darauf hin, dass es ganz unterschiedliche Motive gibt, die das Abstimmungsverhalten bestimmt haben, nicht nur, dass Lothar Bisky Parteivorsitzender ist. Gleichwohl: Eine formale Anforderung, dass eine solche Kombination nicht zulässig sei, enthält unsere Geschäftsordnung nicht.

Ist es nicht so, dass man sich über die Spielregel verabredet hat und hinterher die Spielregel nicht einhalten wollte?

Nein, das halte ich für eine unzulässige Vereinfachung. Man kann nicht vom Bundestag mehr Selbstbewusstsein einfordern und es zugleich beklagen, wenn es sich in einer vielleicht unerwarteten oder auch unerwünschten Weise artikuliert.

Das lässt vieles erwarten für die Wahl eines Kanzlers oder einer Kanzlerin.

Die Abgeordneten sind frei und ihrem Gewissen verpflichtet. Aber ich weise darauf hin, dass weder der Glanz noch die Leistungsfähigkeit eines Parlamentes dadurch zunehmen, dass jedes einzelne Mitglied den Ehrgeiz entwickelt, zu möglichst jeder Frage seine höchstpersönliche Meinung spazieren führen zu wollen.

Kann es denn sein, dass die Linkspartei gar nicht im Präsidium vertreten ist?

Das erwarte ich nicht. Jedenfalls brauchen wir eine Präzisierung der Geschäftsordnung – losgelöst von diesem Fall.

Besteht nicht die Gefahr, dass Lothar Bisky politisch zum Märtyrer gemacht wird?

Auch deswegen hoffe ich und erwarte ich, dass die Kolleginnen und Kollegen, die am 8. November erneut zu entscheiden haben, auch diese Implikation bedenken.

Was sind die Projekte christlicher und sozialer Politik?

Unsere gesamte Parteigeschichte ist geprägt von dem Spannungsverhältnis zwischen zwei zentralen Prinzipien der christlichen Soziallehre, nämlich dem Solidaritätsprinzip und dem Subsidiaritätsprinzip. Und es gehört zu den ständigen Versuchungen, dieses Spannungsverhältnis kraftvoll zugunsten des einen oder des anderen Prinzips aufzulösen. Ich habe keine Mühe nachzuvollziehen, warum jetzt gelegentlich wieder der Versuch zu beobachten ist, das Subsidiaritätsprinzip auf Kosten des Solidaritätsgedankens zu verselbstständigen.

Konkret: Wenn man die Kopfpauschale macht, dann kann man das Steuerkonzept der CDU nicht machen. In Leipzig auf dem Parteitag hat die CDU beides beschlossen, nur an einem anderen Tag, beides mit Jubel. Das passt nicht zusammen.

Also: Ich habe vor dem Leipziger Parteitag im Präsidium meiner Partei mit begrenztem Erfolg darauf hingewiesen, dass sich hier an zwei Stellen ein Ehrgeiz entwickelt, den ich mit den damit verbundenen Festlegungen im Steuer- und im Gesundheitssystem nicht für kompatibel halte. Manche, die das damals für eine lästige Intervention gehalten haben, würden sich heute beglückwünschen, wenn man mir damals gefolgt wäre. Aber das Thema ist uns ja erhalten geblieben, einschließlich der Möglichkeiten, alte Fehler nicht zu wiederholen.

Die Wahl hat gezeigt, radikale Lösungen werden abgelehnt, richtig?

Das ist eine schwer übersehbare Botschaft dieses Wahlergebnisses. Hier wird das Ausmaß der Herausforderungen, vor dem Parteien, Regierung und Parlamente stehen, besonders deutlich. Sie treffen auf eine Öffentlichkeit, die sich im Allgemeinen bewusst ist, dass vieles zu verändern ist,unddiezugleichvonkeinem Konzept, so es denn überhaupt diesen Anspruch verdient, im Konkreten überzeugt ist.

Politik ist ja nicht nur, dass man die Dezimalstellen richtig im Kopf hat, sondern Politik ist, die Richtung vorzugeben. Wie vergewissert man sich über die Richtung?

Unser Problem war vor der Wahl sicher nicht, dass wir zu wenige konkrete Vorschläge für alle möglichen Politikfelder hatten. Aber die Leute haben nicht gesehen, wohin diese Wege führen. Wie die Gesellschaft aussehen soll, die wir entwickeln wollen. Wir hätten unseren Präzisionsehrgeiz weniger auf die Steuersätze konzentrieren sollen als vielmehr auf den Beitrag des Steuersystems zu unserem Konzept einer solidarischen Leistungsgesellschaft.

Gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie eine neue Debatte über Leitkultur angestoßen. Was verstehen Sie eigentlich unter diesem Begriff?

Es geht um die Notwendigkeit, dass sich eine Gesellschaft über ihre Grundlagen und ihre gemeinsamen Orientierungen verständigt.

Dafür reicht das Gesetzbuch nicht aus?

Nein. Dafür reicht das Gesetzbuch erkennbar nicht aus. Natürlich ist richtig, dass das, was in unserer Verfassung und in den Gesetzen steht, für alle gilt, die hier leben. Aber die Vorstellung, dies verstehe sich alles von selbst, verkennt die komplizierten Zusammenhänge einer modernen Gesellschaft. Der Kern jeder Verfassung beruht auf Kultur. Es hat immer etwas zu tun mit der Geschichte eines Landes, mit den Wertvorstellungen, die in einer Gesellschaft gewachsen sind, mit den Traditionen, die sich daraus entwickelt haben, und das findet seinen Niederschlag in einer Verfassung. Die gelegentliche Vorstellung, man könne die Selbstvergewisserung gewissermaßen durch das Bekenntnis zur Multikulturalität einer Gesellschaft ersetzen, ist vielleicht gut gemeint, aber sicher nicht zielführend. Wenn alles, auch Gegensätzliches, zugleich gelten soll, gilt eben nichts wirklich.

Welche Probleme sehen Sie in diesem Zusammenhang?

Es ist weder redlich, kulturelle Differenzen zu bestreiten, noch vernünftig, sie für irrelevant zu erklären. Ein, zwei Beispiele: Der Anspruch auf die Dominanz des Mannes, kulturell begründet, und der Anspruch auf Gleichberechtigung der Frau, kulturell begründet, sind in ein und derselben Gesellschaft nicht gleichzeitig zu haben. Auch der Anspruch auf unmittelbare Geltung religiöser Gebote und der Anspruch auf strikte Trennung von Kirche und Zivilgesellschaft sind in ein und derselben Gesellschaft nicht möglich. So könnte man eine Reihe von Punkten nennen, die zu einem fundamentalen Missverständnis einer multikulturellen Gesellschaft geführt haben. Gerade wenn man eine multikulturelle Gesellschaft will, braucht sie den gemeinsamen Faden, den für alle verbindlichen Rahmen.

Leitkultur als soziale Interaktion, ist es das, was Sie wollen?

Jedenfalls brauchen wir die Vergewisserung über das, was wir für zentral, fundamental und deswegen für unaufgebbar halten. Im Übrigen ist auffällig, dass in den letzten Jahren die offensivsten Aufforderungen zur Wiederherstellung dieser Zusammenhänge von Ausländern oder von nicht mehr in Deutschland lebenden Geistesgrößen gekommen sind. Der Schweizer Adolf Muschg, Präsident der Akademie der Künste, hat seine Verzweiflung zum Ausdruck gebracht über die Befangenheit und „Indifferenz, mit welcher Deutsche ihren spezifischen Beitrag zur Weltzivilisation behandeln“. Der jetzige Papst hat vor seiner Wahl mehrfach darauf hingewiesen, dass es eine ganz merkwürdige und aus seiner Sicht auch schwer akzeptable Abneigung des Abendlandes gebe, sich zu den hier entstandenen, maßstabsetzenden Prinzipien und Orientierungen auch zu bekennen. Europa brauche aber „eine neue – gewiss kritische und demütige – Annahme seiner selbst, wenn es überleben will“. Das ist gewiss nicht weltfremd, sondern wirklichkeitsnah.

Das Interview führten Stephan-Andreas Casdorff, Lorenz Maroldt und Peter Siebenmorgen. Foto: Mike Wolff.

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