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Politik: „Links reden, rechts handeln“

Sozialverbände werfen NRW-Regierungschef Jürgen Rüttgers Wortbruch vor

Das eine oder andere Mal hat Dieter Greese in diesen Tagen ernsthaft an seinem Verstand gezweifelt. Die Zeitungen kündeten unablässig davon, dass Jürgen Rüttgers seine CDU eindringlich ermahnt, das Thema soziale Sicherheit doch bitte schön nicht aus den Augen zu verlieren; ja, er kritisierte gar den neoliberalen Glaubenssatz, dass niedrigere Steuern mehr Arbeitsplätze bedeuteten.

Dieter Greese kennt einen anderen Jürgen Rüttgers. Der füllt nicht die Schlagzeilen des Sommerlochs, der regiert seit einem Jahr das Land Nordrhein-Westfalen in einer schwarz-gelben Koalition. Als Vorsitzender des Kinderschutzbundes ärgert sich Greese seither über zahlreiche gebrochene Versprechen, nimmt er wahr, dass die ohnehin schon besorgniserregend hohe Kinderarmut weiter steigt und der Bildungsnotstand gerade in Familien mit leerem Geldbeutel zuzunehmen droht. „Ich kann nicht begreifen, woher der sein Sozialimage nimmt“, klagt Greese, „der redet links und biegt dann rechts ab.“

Der Mann ist mit der Klage nicht allein. Neben dem Kinderschutzbund haben sich jetzt die Arbeiterwohlfahrt und der Paritätische Wohlfahrtsverband kraftvoll zu Wort gemeldet, um auf die offenbar massiv zunehmende Verarmung der Kinder in der Gesellschaft hinzuweisen. „Kinderarmut wird meistens mit der dritten Welt in Verbindung gebracht“, beobachtet Greese, „aber das ist falsch, es gibt sie hier bei uns.“ Inzwischen leben in Deutschland schon 2,5 Millionen junge Menschen unter der Armutsgrenze; sie wohnen in einem Haushalt, der nicht einmal 50 Prozent des Durchschnittseinkommens erwirtschaftet. „Das trifft jedes fünfte Kind unter 18 Jahren“, bilanziert Greese traurig. Die Entwicklung hat sich verschärft, seit über Hartz IV etliche Leistungen nur noch pauschal gezahlt werden. „Ein Kind bekommt für den Schulbedarf nur pauschal 1,35 Euro pro Monat“, weiß Paul Saatkamp, Chef der Arbeiterwohlfahrt im größten Bundesland, bevor er hinzufügt: „Armut kann man aber nur mit Bildung überwinden.“

Genau das Gegenteil erwarten die Verbände zwischen Rhein und Weser. „Es wird überall im Vorschul- und Jugendbereich außerhalb der Schule gekürzt“, ärgert sich Saatkamp, „das ist die Verlogenheit bei diesem Thema.“ Da die Landesregierung nach Berechnungen der Sozialverbände im Kindergartenbereich rund 120 Millionen Euro einsparen will, wird sich die Spaltung der Gesellschaft nach ihrer Beobachtung sogar beschleunigen. „Das hat auch mit der Aufhebung der Schulbezirke zu tun. Dort werden die Mobileren ihre Kinder abmelden, übrig bleibt die Ghettoschule“, sagt Saatkamp voraus. Die Sozialverbände fordern von der Landesregierung, die Kürzungen im Jugendbereich zurückzunehmen und den Bildungsauftrag auch in der Vorschule ernst zu nehmen. „Dort werden die Lebenschancen verteilt“, urteilt Saatkamp.

Die Verbände verschärfen damit die politische Kritik am Kurs von Jürgen Rüttgers. Der hatte die Union aufgefordert, sich von Lebenslügen zu trennen, und zum Ärger des liberalen Koalitionspartners Zweifel angemeldet, ob niedrigere Steuern und niedrige Löhne wirklich zu neuen Arbeitsplätzen führen. Die reale Politik des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten passt nach Ansicht der Grünen nicht zu diesen Erkenntnissen. Während der Tarifauseinandersetzung des Landes mit dem Pflegepersonal an den Universitätskliniken habe sich Rüttgers zum Beispiel nicht rechtzeitig für deren Belange eingesetzt. „Außerdem hat er die massiven Kürzungen im Jugendbereich zu verantworten“, wirft ihm Sylvia Löhrmann, die Grünen-Fraktionschefin, vor und rät ihm deshalb, endlich von den eigenen „Lebenslügen“ Abschied zu nehmen.

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