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Politik: Lissabon statt Brüssel

Viele Letten finden die EM spannender als die EU

Riga - Statt um Straßburg kreist die Fantasie der meisten Letten derzeit eher um Lissabon. „Unser Weg nach Portugal“ heißt der Titel, mit dem Rigas Buchhändler Schaufenster füllen. Das Werk beschreibt den Einzug der lettischen Nationalkicker in die EM-Endrunde, wo das Team auch auf Deutschland trifft. Plakate zur Europawahl sind dagegen kaum zu sehen und an den wenigen Wahlständen gehen die meisten Menschen achtlos vorbei. „Es ist zu befürchten, dass die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent liegt“, sagt Andris Gobins von der „Europäischen Initiative“. Das entspreche zwar westeuropäischen Niveau, sei aber angesichts der Wahlpremiere enttäuschend.

Ganz anders das Bild bei nationalen Wahlen: Da prägen überlebensgroße Porträts der Spitzenkandidaten die Szene in Riga. Mit Hilfe von Sponsoring-Millionen örtlicher Geschäftsleute gelang es immer wieder, neu gegründeten Parteien aus dem Stand weg zur Mehrheit zu verhelfen. Mit bis zu sieben Euro pro Wähler leistete sich das ärmste EU-Land zuletzt einen der – relativ – teuersten Wahlkämpfe Europas, sagt Daunis Auers, Politologe an der „Euro-Fakultät“ der Universität von Lettland in Riga.

Diesmal hielten sich die Geldgeber aus der Wirtschaft zurück, wohl auch, weil sie sich kaum Gegenleistungen erhoffen können. „Was können unsere neun Parlamentarier in Straßburg schon bewegen?“ fragt Janis Jurkans von der gemäßigten Linken. Gönnerhaft ließ er andere vor: „Der Job in Straßburg ist etwas für die Jungen“, sagt Jurkans, der lieber Parteivorsitzender bleiben will.

Dennoch haben sich ehemalige Spitzenpolitiker, mehrere Ministerpräsidenten und der amtierende Außenminister in die Wahllisten eintragen lassen. Chancen können sich Kandidaten der bürgerlich-konservativen Rechten ausrechnen. Auf der anderen Seite haben die vor allem von der großen russischsprachigen Bevölkerungsgruppe unterstützten Linksparteien Aussicht auf ein Mandat. Die Linke hat für den Wahltag am Samstag zu Demonstrationen aufgerufen und kritisiert, dass die etwa 500 000 staatenlosen ethnischen Russen nicht mitwählen dürfen.

Erste praktische Erfahrungen mit der Europäischen Union machten die meisten Letten in den vergangenen Wochen an den Ladentheken. Wie in anderen Beitrittsstaaten auch, sind die Preise von einigen Lebensmitteln seit dem EU-Beitritt sprunghaft gestiegen. „Viele Geschäftsleute haben wohl die Gunst der Stunde genutzt und zusätzliche Gewinne eingestrichen“, sagt der lettische Premierminister Indulis Emsis. Protestwähler könnten sich deshalb auch für eine Gruppierung entscheiden, die sich „Euroskeptiker“ nennt, wird vermutet.

Jan Pallokat

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