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Politik: Lösbare Aufgabe

Von Tissy Bruns

Nach den Sommerferien werden in Berlin 6496 Kinder – ein Viertel aller Erstklässler – eingeschult, bei denen im Januar Sprachdefizite festgestellt worden sind. In München weiß einer, wie man mit so etwas fertig wird: Wer nicht Deutsch kann, wird nicht eingeschult, verkündet Edmund Stoiber. Der CSU-Chef ist ein schlechter Landesvater. Es ist anstößig, wenn ein Ministerpräsident das, wofür er selbst einzustehen hat, in eine Bringschuld von Sechsjährigen umdefiniert. Die Schulpflicht ist in Deutschland Recht jedes Kindes. Das Grundgesetz sagt: Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. Auf den müssen Kinder sich verlassen können, wenn Eltern versagen.

Es stößt sich aber fast niemand an verbalen Grundgesetzverletzungen à la Stoiber. Sie sind, im Gegenteil, gerade in Mode. Die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln ist zum Anlass für eine verlogene Kraftmeierei von Spitzenpolitikern geworden, die damit die Folgen ihrer Tatenlosigkeit übertönen. Und im Übrigen seelenruhig zuschauen, wie zu Tausenden der Nachschub für weitere Rütli-Karrieren auch in diesem Herbst wieder in deutsche Klassenzimmer einzieht.

Die traurige Wahrheit ist, dass den fast erwachsenen Schülern der Neuköllner, Wilhelmsburger, Frankfurter oder Münchner Hauptschulen kaum noch zu helfen ist. Malt Bürgermeisterkandidat Friedbert Pflüger sich denn aus, was Kinder und Heranwachsende schon erlebt haben, bis Polizeischutz vor der Schule zur gebotenen Maßnahme wird? Diese Kinder sind in einer Hackordnung aufgewachsen, die der in Gefängnissen gleicht. Keiner ist zum gewalttätigen Krawallo geworden, ohne zuvor die bitteren Lektionen der Opfer solcher Verhältnisse zu lernen. Pflüger empfiehlt: Abschiebung. Es handelt sich in Neukölln aber um unsere Kinder und eine Verantwortung, die wir nicht entsorgen können.

Kinder aus unterprivilegierten Verhältnissen brauchen Hilfe, keine Sentimentalitäten. Wer etwas für sie tun will, muss von ihnen viel verlangen, Disziplin, Lerneifer, Regeln. Aber rechtzeitig! Wo finden sich heute die erwachsenen Anwälte, wenn Eltern aus Unkenntnis, Sprachunkundigkeit, Sucht, kultureller Differenz den Weg ihrer Kinder ins Leben nicht angemessen begleiten können oder wollen? Lehrer, Sozialarbeiter, die Schulverwaltungen und Bildungspolitiker haben ein gemeinsames Schicksal: Sie stehen auf verlorenem Posten.

Der amtierende Bürgermeister von Berlin wälzt seit eh und je die Verantwortung für die Kinder dieser Stadt auf den Bildungssenator ab. Chefsache ist Schule nicht einmal dort, wo sie in Deutschland nach herrschender Lehre hingehört: in den Ländern. Die Partei der Bundeskanzlerin will, nach Entdeckung der Rütli-Schule, hoch hinaus, auf einen Integrationsgipfel. Vor einer Woche noch hat Angela Merkel im Bundestag beiläufig gesagt, wer eine Leidenschaft für die Schulpolitik habe, sei im Bundestag am falschen Platz.

Wer nicht will, dass aus den 6000 Erstklässlern mit Sprachproblemen in zehn Jahren 600 Messerhelden hervorgehen, hat Handlungsoptionen. Machen wir doch Ernst! Wer will, dass alle Sechsjährigen Deutsch sprechen, muss sich die Vierjährigen ansehen. Wer nicht will, dass die Seuche der Passivität die körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern verdirbt, muss früh eingreifen. Deutschland gibt jedes zehnte Kind auf, bevor es in die Schule kommt. Wir brauchen aber jedes einzelne – und diese Aufgabe ist lösbar, wenn wir nur wollen.

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