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Politik: London berät die Suspendierung der nordirischen Regierung

Die britische Regierung wird heute im Unterhaus eine Erklärung über Nordirland abgeben. Das klingt ominös.

Die britische Regierung wird heute im Unterhaus eine Erklärung über Nordirland abgeben. Das klingt ominös. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, werden die nordirische Regierung, das Parlament und alle andern Behörden des Friedensprozesses "suspendiert", während britische Minister die Tagesgeschäfte in Belfast übernehmen und die Provinz in Abstimmung mit der irischen Regierung verwalten werden.

Am Dienstag liefen die Drähte zwischen London, Dublin, Belfast und Washington heiß: Diplomatische Demarchen und politischer Druck sollten die Krise noch einmal abwenden. Wie konnte es dazu kommen? Acht Wochen lang hatte Nordirland die Selbstverwaltung geübt, ehemalige Todfeinde saßen in derselben Regierung, die beiden Inselteile knüpften freundschaftliche Beziehungen zum beiderseitigen Nutzen an. Das ungewohnte Wort Normalität tauchte immer häufiger auf. Allein, das komplexe Bauwerk stand auf einer brennenden Lunte. Es hatte anderthalb Jahre gedauert, den Wunsch der Protestanten nach einer Entwaffnung der IRA und den Wunsch der Nationalisten nach einer Regierungsbildung unter einen Hut zu bringen.

Am 2. Dezember warf die Unionistenpartei von Chefminister David Trimble ihre bisherigen Forderungen über Bord und ging mit gutem Beispiel voran. Ein sorgfältiges geheimes Drehbuch war unter der kundigen Führung des amerikanischen Ex-Senators George Mitchell geschrieben worden. Zug um Zug sollten sich Leistung und Gegenleis-tung ablösen, das Vertrauen keimen. Der kanadische General John de Chastelain übernahm eine undankbare Schlüsselrolle: Er sollte Mitte Dezember einen ersten und Ende Januar einen zweiten Fortschrittsbericht ausarbeiten, wie er mit den neuen Kontaktmännern der paramilitärischen Organisationen zurande kam. De Chastelain hat seinen zweiten Entwaffnungsbericht in der Nacht zu Dienstag in Dublin und London eingereicht, aber der Inhalt war derart ernüchternd, dass die Regierungen das Papier noch immer unter Verschluss halten.

Die IRA hat noch nicht mit ihrer eigenen Entwaffnung begonnen, sie hat weder ein Inventar ihres Arsenals vorgelegt noch einen Terminplan, wie die Entwaffnung bis Mai abgeschlossen werden kann. Deshalb tritt am Freitag die vordatierte Rücktrittserklärung Trimbles in Kraft - vergeblich hat er auf die Gegenleistung der IRA gewartet.

London ist bereit, die Institutionen der nordirischen Selbstverwaltung einzufrieren, um Trimbles Rücktritt zuvorzukommen, denn angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Belfaster Parlament könnte Trimble nicht mehr gewählt werden. Umgekehrt ist klar, dass die Entwaffnung kaum vom Fleck kommt, wenn die Selbstverwaltung außer Kraft gesetzt wird. Dieses Dilemma ist das Motiv der irischen Regierung, fieberhaft eine verbindliche Zusage der IRA zu fordern, sie verpflichte sich zur Entwaffnung bis zum Mai - dies schüfe eine Gewissheit, die es bislang nicht gibt. Dann könne die Suspendierung vielleicht umgangen werden, obwohl die Unionisten zurzeit behaupten, verbale Garantien seien wertlos geworden.

Martin Alioth

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