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Politik: London lässt EU-Verfassung liegen

Großbritannien ignoriert Warnungen aus Berlin und Paris und sagt Volksabstimmung zunächst ab

London/Berlin - Großbritannien hat am Montag die ursprünglich für das kommende Jahr geplante Volksabstimmung über die EU-Verfassung vorerst abgesagt. Damit schlug die Regierung in London die Warnungen aus Berlin, Paris und Brüssel in den Wind, den Ratifizierungsprozess nicht durch ein einseitiges Vorpreschen zu gefährden. Außenminister Jack Straw kündigte vor dem Unterhaus in London an, dass die zweite Lesung des Gesetzentwurfs verschoben werde, der den Weg für das Referendum ebnen sollte. Nach dem Nein zur EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden sei es vernünftiger, weitere Debatten und Entscheidungen auf EU-Ebene über die künftige Entwicklung in der Union abzuwarten, sagte Straw weiter.

Politiker aller britischen Parteien hatten übereinstimmend ein Referendum für unmöglich erklärt, solange das Schicksal der EU-Verfassung fraglich ist. Großbritannien behält sich aber die Option vor, den Ratifizierungsprozess zu einem späteren Zeitpunkt aufzunehmen, wenn die offenen Fragen geklärt sind. Straw erklärte allerdings auch: „Im Moment sehen wir keinen Sinn darin, fortzufahren.“ Am 10. Juli steht die nächste Volksabstimmung über die Verfassung in Luxemburg an. Die dänische Regierung kündigte an, nach dem EU-Gipfel am 16./17. Juni in Brüssel zu entscheiden, ob die für den 27. September angesetzte Volksabstimmung in Dänemark tatsächlich abgehalten wird.

Straw betonte, dass es nicht allein Sache Großbritanniens sei, über die Zukunft des Verfassungsvertrags zu entscheiden. Entscheidungen nationaler Regierungen und der EU insgesamt über das weitere Vorgehen seien nun notwendig. Die Briten wollen damit den Ball zurück an die Regierungen in Frankreich und in den Niederlanden spielen, die erst sagen sollen, wie sie weiter verfahren wollen. Einerseits scheuen sich die Briten, den Ratifizierungsprozess im Alleingang abzubrechen und so zum Totengräber der EU-Verfassung zu werden. Andererseits dürfte der Signaleffekt, der von der Entscheidung gegen das Referendum ausgeht, in London nicht ganz unerwünscht sein. Denn London sieht nun eine Chance, die EU auf ein neues Gleis zu setzen, das den britischen Vorstellungen mehr entspricht als das von Frankreichs Präsident Jacques Chirac vor dem Referendum Ende Mai noch einmal beschworene „soziale Europa“.

Außenminister Joschka Fischer (Grüne) sagte nach Gesprächen mit dem portugiesischen Außenminister Diogo Freitas do Amaral in Lissabon, der Prozess der Ratifizierung werde durch die Entscheidung in London nicht beendet, sondern nur unterbrochen. „Diese Ankündigung ist für mich nicht unerwartet gekommen“, fügte er hinzu. Fischer wollte die Folgen der Londoner Entscheidung nicht bewerten und verwies auf den EU-Gipfel Mitte Juni.

Der CDU-Europapolitiker Peter Hintze sagte dem Tagesspiegel, mit der Aussetzung der Ratifizierung in Großbritannien würden die „Regeln des Fairplay gebrochen“. Es sei ein „sehr irritierendes Signal“, dass die britische Regierung diesen Schritt kurz vor der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft unternehme, sagte der CDU-Politiker weiter. Normalerweise gelte für die EU-Präsidentschaft eine „besondere Pflicht zur Besonnenheit“. Diese Pflicht sei aber mit der Ankündigung des britischen Außenministers Straw vom Montag „sehr zurückgestellt worden“. Nach der Ansicht des Europaexperten kann sich die Europäische Union auch nach dem Nein zur EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden „eine Phase des Stillstands nicht leisten“. Er ermuntere deshalb die anderen EU-Länder, die Ratifizierung der Verfassung fortzusetzen.

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