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Der Angeklagte Oskar Gröning (M.) kommt am 08. Juli 2015 in den Gerichtssaal in Lüneburg.

© Christian Charisius/dpa

Lüneburger Prozess gegen "Buchhalter von Auschwitz": Jurist prangert „jahrzehntelanges Versagen“ der deutschen Justiz an

Im Verfahren gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning hat ein Vertreter der Nebenklage die Versäumnisse in der Verfolgung von NS-Verbrechern kritisiert. Ein Frankfurter Staatsanwalt hatte Ermittlungen gegen Gröning 1985 eingestellt.

Die Frage hat den Lüneburger Auschwitz-Prozess von Anfang an begleitet: „Warum hat es so lange gedauert, bis Oskar Gröning angeklagt wurde?“ Mittlerweile ist der Angeklagte 94 Jahre alt, die ihm zur Last gelegte Tat liegt 71 Jahre zurück.  Der frühere SS-Unterscharführer muss sich wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 300.000 Menschen im nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verantworten. Die ungarische Auschwitz-Überlebende Eva Pusztai äußerte vor Prozessbeginn die Hoffnung, im Verfahren eine Antwort darauf zu bekommen, warum Gröning erst jetzt vor Gericht stehe.  Der Nebenklagevertreter Cornelius Nestler stellte diese Frage am Mittwoch in den Mittelpunkt seines Plädoyers. Der deutschen Justiz warf er „jahrzehntelanges Versagen“ vor.

Der Kölner Strafrechtsprofessor beschrieb die „Geschichte der Nicht-Verfolgung“ Grönings und tausender anderer SS-Angehöriger in Auschwitz. Als in Frankfurt am Main in den sechziger Jahren der große Auschwitz-Prozess begann, sei Gröning „noch gar nicht auf dem Bildschirm der Strafverfolgungsbehörden“ gewesen, sagte Nestler. Zugleich machte er deutlich, dass der Frankfurter Prozess jahrzehntelang die juristische Verfolgung ehemaliger SS-Leute aus den Vernichtungslagern prägte. Denn das Gericht folgte nicht dem Staatsanwalt Fritz Bauer, der den Massenmord an den europäischen Juden in Auschwitz als eine einzige Tat im juristischen Sinne betrachtete. Demnach war jeder, der zum Lagerpersonal gehörte, an der Ermordung der Menschen in Auschwitz beteiligt. Diese Konsequenz habe das Frankfurter Landgericht nicht mittragen wollen, kritisierte Nestler. Das Gericht suchte für jeden Angeklagten nach einer konkret nachweisbaren Tat. „Das Urteil zerlegt den industriell organisierten Massenmord in kleinste Einzelteile“, sagte Nestler. Dadurch werde eine „möglichst große Distanz zu jeder systematischen Verstrickung in die NS-Verbrechen“ geschaffen.

 Frankfurt lehnt neue Ermittlungen ab

Oskar Gröning geriet 1977 ins Visier der Justiz. In Frankfurt wurde gegen ihn und 61 andere Angehörige der Gefangeneneigentumsverwaltung ermittelt. Im Jahr 1985 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein, eine schriftliche Begründung fehlt bis heute. In Lüneburg sprach Staatsanwalt Jens Lehmann nun von einer „rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung“. Man hätte bereits 1980 Anklage erheben können, betonte er.

Zwanzig Jahre nach der Einstellung der Ermittlungen musste sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt wieder mit Gröning befassen, der im „Spiegel“ über seine Tätigkeit als Buchhalter in Auschwitz und über den Dienst an der Rampe gesprochen hatte. Ob das nicht den Verdacht der Beihilfe zum Mord begründe, wollte die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen wissen. Doch in Frankfurt werden neue Ermittlungen abgelehnt, weil Grönings Einsatz an der Rampe nicht dazu gedient habe, die Flucht der ankommenden Menschen zu verhindern – und diese auch gar nicht hätten fliehen können oder wollen.

Man sei fast versucht, dem Landgericht Lüneburg und der Staatsanwaltschaft Hannover dafür zu danken, dass sie im Fall Gröning taten, was ihre Pflicht sei, sagte Nestler. Das Verfahren komme „viel zu spät, aber nicht zu spät“. An den Angeklagten gewandt sagte der Nebenklagevertreter: „Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte.“

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