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Eine Familie flieht nach Angriffen im türkisch-syrischen Grenzgebiet.

© dpa

Luftangriffe auf Türkei: Wie die Raketenabwehr den Krieg ins Land tragen könnte

Seit vielen Tagen sind die Menschen im türkischen Grenzgebiet zu Syrien Opfer von Luftangriffen. Wer kann, flieht ins Landesinnere. Trotzdem sind die allermeisten gegen die Patriot-Raketenabwehr aus Deutschland. Sie fürchten, noch tiefer in den Konflikt zu geraten.

Pferdekarren rattern über die holprige Marktstraße von Ceylanpinar, hinter ihnen hupen ungeduldige Minibusfahrer; die Händler lassen erstmals seit Tagen die Rollläden ihrer Geschäfte hochrasseln, und auf dem Schulhof toben endlich wieder Kinder. Der Alltag scheint wieder einzukehren in dieses türkische Städtchen – da wird der geschäftige Lärm plötzlich übertönt von einer gewaltigen Explosion in allernächster Nähe, gefolgt von lauten Maschinengewehrsalven. Mit einem Schlag wird es still auf der Straße, alles hält inne und horcht hinüber nach Ras al Ain, der syrischen Stadt auf der anderen Seite der Grenze. Dann krächzt ein Lautsprecher:„Werte Bevölkerung von Ceylanpinar, bitte verlassen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit den Grenzbereich.“„Ich halte das einfach nicht mehr aus“, schreit Hatice Özdemir und lässt den Schlauch fallen, mit dem sie gerade die letzten Granatsplitter aus ihrem Innenhof wegspritzt. Gestern erst ist sie mit ihrer Mutter und ihren Schwestern von Verwandten in Urfa zurückgekehrt, zu denen sie sich während der Luftangriffe der syrischen Armee auf Rebellenstellungen in Ras al Ain letzte Woche geflüchtet hatten. Beim Frühstück saß die Familie in ihrem Häuschen in Ceylanpinar, als es losging – ein Schlag aus heiterem Himmel, der ihnen fast das Herz stehen bleiben ließ. Die Splitter ihrer Fensterscheiben flogen ihnen um die Ohren, erzählen die Schwestern, und das Ofenrohr wurde ihnen glatt vom Dach geschossen. „Wir können nicht mehr essen und nicht mehr schlafen seither, wir wagen uns kaum auf die Toilette“, sagt Hatice. „Und jetzt geht das schon wieder los.“

Den ganzen Vormittag rattern drüben in Ras al Ain, nur wenige hundert Meter entfernt, die Gewehre, immer wieder bebt der Boden von Detonationen. Syrische Rebellen und Kurdenkämpfer liefern sich schwere Gefechte. Die syrische Luftwaffe ist zwar erst einmal verschwunden aus Ras al Ain, doch die Jets könnten jederzeit wiederkommen, befürchten die Menschen in Ceylanpinar. Nach den syrischen Luftangriffen in Ras al Ain vorige Woche schickte auch die türkische Luftwaffe ihre Kampfjets vom Typ F-16 zur Grenze.

Nicht zuletzt wegen der Destabilisierung von Grenzstädten wie Ceylanpinar will die Türkei die Patriot-Raketenabwehrsysteme aus Deutschland und anderen Nato-Staaten in der Gegend entlang der 900 Kilometer langen Grenze sehen.

Die Patriots sollen aus türkischer Sicht nicht nur Nato-Gebiet gegen Luftangriffe und Raketenbeschuss aus Syrien schützen, sie sollen auch abschreckend auf die syrischen Regierungstruppen wirken: Konfrontiert mit den hochmodernen Nato-Waffen an der Grenzlinie, dürften die Truppen von Präsident Baschar al Assad die Grenzgegend in Frieden lassen, hoffen sie. Derzeit kann in Ceylanpinar von Frieden keine Rede sein. Für die Menschen hier ist der Bürgerkrieg in Syrien kein fernes Schauspiel, er ist eine akute Bedrohung.

Angst vor den Luftangriffen

Im Haus der Familie Özdemir hat Hatice bis zum Mittag ihrer Mutter Medine wieder die Reisetaschen gepackt; wegen ihres Bluthochdrucks soll zumindest die alte Dame in Sicherheit gebracht werden. Die Schwestern glauben, den Verwandten in Urfa nicht weiter zur Last fallen zu dürfen, und die Männer können ihre Arbeitsplätze nicht verlassen, ohne ihren Monatslohn einzubüßen. „Es gibt keine Zuflucht für uns“, sagt Hatice.

Dennoch ist die junge Frau im goldverzierten Kopftuch skeptisch, was einen Einsatz der Bundeswehr hier im türkischen Grenzgebiet zu Syrien angeht, und sei es nur mit Luftabwehrgeschützen. „Gott soll es ihnen danken, dass sie dazu bereit sind“, sagt Hatice. „Aber ich fürchte, das würde alles noch schlimmer machen. Wir könnten dadurch in den Krieg hineingezogen werden, und das wollen wir nicht.“

Einen Straßenzug weiter rollt ein Krankentransporter vorsichtig an eine Hausecke heran, der Fahrer fragt Passanten nach der Lage, bevor er die Deckung der letzten Hausreihe verlässt und zügig am Grenzstreifen entlang weiterfährt. Auf den Häusern und Mauern gegenüber ist die Flagge der syrischen Rebellen gehisst; zwischen den Stacheldrahtrollen warten syrische Großfamilien mit Taschen und Säcken darauf, auf türkisches Gebiet zu gelangen; ein paar hundert Meter hinter ihnen rattern Maschinengewehre. Auf der türkischen Seite rast ein Schützenpanzer heran. „Los, weg hier“, brüllt ein Soldat, der sich aus der Luke hochstemmt, den Fußgängern auf der Straße zu. „Da drüben sind 200 Mann in einer Schule eingekesselt, die versuchen gerade den Ausbruch.“ Eine weitere Explosion lässt alle in Deckung gehen.

Nicht für sich selbst, wohl aber für seine fünf Kinder fürchte er, sagt Mustafa Boga, der vor seinem Friseurladen an der Marktstraße den Himmel nach Fliegern absucht. „Das waren wirklich entsetzliche Bombardierungen, diese Luftangriffe.“ Die Kinder hatte er deshalb zu Verwandten nach Adiyaman geschickt, solange die Schulen wegen der Bombeneinschläge geschlossen hatten, doch heute hat der Unterricht wieder begonnen. „Und nun geht das schon wieder los“, seufzt Boga.

Im Reisebüro nebenan, das Busfahrten in alle Landesteile verkauft, gehen die Billetts inzwischen reißend weg. „Familienweise flüchten die Leute aus der Stadt, schon seit Tagen“, sagt der Ticketverkäufer Serhat Ölmez. „Nur ich kann nicht weg, weil ich arbeiten muss. Ich kann nur von der Straße rennen, wenn es wieder knallt, aber hier drinnen bin ich auch nicht sicher.“

Trotzdem sind die Männer nicht begeistert von der Aussicht auf militärische Unterstützung der Nato. „Wenn deutsche Soldaten kommen, könnte das eine Eskalation provozieren“, befürchtet Friseur Boga, und die umstehenden Händler und Handwerker pflichten ihm bei.

„Sieh mal, wenn zwei sich streiten und einer von ihnen holt einen Dritten herbei und lässt den auf den anderen schießen – das würde ich mir anstelle von Assad auch nicht gefallen lassen“, sagt Bogas Nachbar Mehmet Yamac. „Wenn die Deutschen kommen, könnte alles noch schlimmer werden“, pflichtet ihnen der Minibus-Chauffeur Abdulkerim Arda bei, der seine fünf Kinder ebenfalls zu Verwandten aufs Land gebracht hat. „Und wir sind diejenigen, die dann die Bomben abkriegen.“

Auf Taschen und Bündeln, auf Bänken, Hockern und schlicht auf dem Bürgersteig sitzen überall in Ceylanpinar die Flüchtlinge aus Syrien – im Stadtpark, auf der Marktstraße und vor allem vor dem geschlossenen Grenzübergang in der Stadtmitte. Die meisten von ihnen sind erst in den vergangenen Tagen gekommen, seit den Luftangriffen der syrischen Armee.

„Der Bodenkrieg schreckt uns nicht, aber so eine Bombardierung aus der Luft ist etwas Furchtbares“, sagt der syrische Schlosser Adem Sait, der sich mit Frau und Kindern herübergerettet hat und heute eigentlich zurück nach Hause wollte – bis das Kampfgetöse am Morgen wieder begann. Nun werden sie wohl weiter warten müssen an dem Grenzübergang, an dem mehrere türkische Ambulanzen aufgefahren sind, um mögliche Verletzte in Empfang nehmen zu können.

Deutsche Hilfe halten viele für überflüssig

„Wie soll das nur weitergehen?“, fragt sich Dilber Atay, die ein paar hundert Meter weiter auf ihren Bus wartet. Die Hausfrau sorgt sich um die Zukunft ihres ältesten Sohnes, der mit 18 die letzte Gymnasialklasse besucht und seit Jahren mit teuren Privatkursen für die Aufnahme an eine gute Universität paukt. Zwei Wochen lang waren Gymnasium und Privatkurse geschlossen, und jetzt werden sie wohl gleich wieder zumachen. Der Ausfall könnte den Jungen schon jetzt die Punktzahl für die Uni kosten, befürchtet die Mutter. Die Arbeit und die Ausgaben der letzten Jahre wären umsonst.

Von normalem Leben könne schon längst keine Rede mehr sein, sagt auch Leyla Emin und zeigt auf Einschusslöcher an ihrem Haus. Militärische Hilfe der Nato finden beide Frauen zwar gut gemeint. „Aber was ist, wenn die Syrer dann zurückschießen?“, fragt Leyla, die deshalb eher dagegen ist: „Wenn große Waffen kommen, gibt es großen Krieg.“

Im Teehaus gegenüber vom Grenzübergang wird die Bündnisfrage unter Männern erörtert. Deutsche und Türken seien ja schon immer Bündnispartner gewesen, sagt der 35-jährige Mehmet Salih Ciftci. „Die ganze Anlage haben ja die Deutschen gebaut“, sagt er und zeigt auf die Gleise, die türkisches von syrischem Staatsgebiet trennen – eine historische Station der Bagdad-Bahn, mit der das Deutsche und das Osmanische Reich eine Bahnverbindung von Berlin bis Bagdad schaffen wollten.

Deutsche Hilfe hält Ciftci heute aber für überflüssig, auch wenn sein Dönerladen bei den syrischen Luftangriffen die Scheiben eingebüßt hat. Die Türkei könne sich schon selbst verteidigen, dazu brauche man keine anderen Länder. Im Gegenteil, findet der Fernfahrer Eyüp Firat, der auf seinen Touren nach Irak so einiges gesehen hat und von amerikanischen Gräueltaten in Mosul und Kirkuk berichtet: „Ausländische Truppen bringen nur Verderben.“

Nur einer sieht das anders. „Das will ich jetzt doch mal sehen, wie Deutschland die Türkei unterstützt – ob die nur in Mikrofone quatschen von der Solidarität oder ob die wirklich kommen und etwas tun dafür“, ruft Ahmet Akkurt aus, der Alt-Bürgermeister des Stadtviertels, und haut mit der flachen Hand auf den Tisch. „Klar haben wir genug eigene Soldaten, aber wir wollen es wissen: Wie aufrichtig ist diese Bündnispartnerschaft der Deutschen?“ Rasch hat Akkurt die Sympathien auf seiner Seite, die Runde spricht nun von den türkischen Kampfeinsätzen für die Verbündeten im Korea-Krieg und in Afghanistan und von der zuverlässigen Bündnistreue der Türkei.

Draußen sammeln sich auf einem Spielplatz an der Grenze inzwischen die Kinder von Ceylanpinar, denen nach zehn Tagen ohne Schule zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Die zwölfjährige Amine ist heute Morgen zwar wieder zur Schule gegangen, nach der ersten Detonation aber gleich wieder heimgeschickt worden. Die 14-jährige Bahar ist vor Angst gar nicht erst gegangen. Den neunjährigen Furkan hat seine Mutter vorsichtshalber zu Hause behalten. Nur der elfjährige Muhammed war im Unterricht. „Von 31 Kindern in meiner Klasse waren 14 heute nicht da“, berichtet er. Und in der Pause gab es Bombenalarm.

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