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Politik: Machtkampf in Jugoslawien: Das Parlament in Belgrad ist gestürmt, die Lage explosiv. Im Ausland wächst die Angst vor Gewalt.

Die Sorge war unüberhörbar. Sie sagten alle das gleiche - die westlichen Staatschefs.

Die Sorge war unüberhörbar. Sie sagten alle das gleiche - die westlichen Staatschefs. Wenn auch mit anderen Worten. Bundeskanzler Gerhard Schröder drückte es vielleicht am eindringlichsten aus: "Schießt nicht auf die eigenen Leute." Und auch das machten alle Äußerungen deutlich: Keine Gewalt, wir unterstützen die Opposition. Von Bill Clinton in Washington über Tony Blair in London bis zu Gerhard Schröder. Treten Sie zurück, Herr Milosevic! - das war die Botschaft des Westens. Das Volk habe eine eindeutige Sprache gesprochen.

Auch der britische Premier wählte nicht mehr die Sprache der Diplomaten. Dafür war die Zeit abgelaufen. Blair sagte deutlich: "Gehen Sie, gehen Sie jetzt, gehen Sie, bevor noch mehr Menschenleben vernichtet werden, bevor es noch mehr Zerstörung gibt." An die Opposition gewandt, versicherte Blair, die Hand der Freundschaft Großbritanniens und anderer demokratischer Staaten sei ausgestreckt für das serbische Volk. "Die Aussage der Wahl ist klar, und klar ist auch die Botschaft an Milosevic."

Als die Demonstranten in Belgrad das Parlament stürmten, war US-Präsident Clinton gerade auf dem Weg zur Princeton-Universität. Über progressive Regierungen wollte er dort sprechen. Zuvor betonte er im Weißen Haus, Amerika stehe "an der Seite von allen, die für Demokratie kämpfen, in Serbien und überall". Oppositionsführer Kostunica habe erhebliche Differenzen mit den USA. Es gehe daher mitnichten darum, einem Freund Amerikas in den Sattel zu helfen, sondern den Willen des Volkes zu respektieren.

Allerdings schloss Clinton jedes militärische Eingreifen gegen Milosevic und zu Gunsten Kostunicas aus. Die Bilder vom Sturm auf das Parlament habe Clinton zunächst nicht gesehen, hieß es aus seinem Umfeld. Auch Madeleine Albright, die Außenministerin, war auf dem Rückflug aus dem Nahen Osten, als Kostunica zu den Demonstranten sprach. In Irland sollte sie zwischenlanden. Dort sollte ihr auch die Anweisung Clintons überbracht werden, den russischen Außenminister Iwanov anzurufen. Clintons Berater hatten sich gegen einen direkten Kontakt des US-Präsidenten mit Wladimir Putin entschieden. Die Außenminister sollten das erledigen. Die Botschaft an Moskau: Russland möge, wie der Westen, Kostunica als Wahlsieger anerkennen und Milosevic zum Rücktritt auffordern. Als Ersatzmann für Albright stand für diese Mission auch Clintons Sicherheitsberater Sandy Berger parat. Auch die Präsidentschaftskandidaten, Bush und Gore, sagten, auch das ersehnte Ende der Milosevic-Ära sei kein Anlass für ein militärisches Eingreifen.

Tausende Kilometer entfernt, im Berliner Kronprinzenpalais Unter den Linden, wollte Bundeskanzler Gerhard Schröder eigentlich die Eröffnung der Werkschau des Fotografen Konrad R. Müller feiern, aber die Meldungen aus Belgrad erforderten politische Kommentare. "Wendet keine Gewalt an. Schießt nicht auf das eigene Volk", warnte Schröder mit ernstem Gesicht und Hinweis auf die Erfahrungen, die die Deutschen während der Wende gemacht hätten. Gewaltanwendung werde "auf den Widerstand der internationalen Staatengemeinschaft stoßen". Seine Hoffnung sei, dass sich die demokratische Opposition durchsetzen werde. Es sei deutlich geworden, dass sich die Menschen in Jugoslawien den Wahlsieg nicht mehr nehmen lassen würden. Außenminister Joschka Fischer ergänzte, jetzt liege die Entscheidung für die Zukunft des Landes "bei denen, die sich für die Freiheit eingesetzt haben". Zu einem möglichen militärischen Eingreifen des Westens sagte Fischer: "Spekulationen verbieten sich in dieser prekären, dynamischen Situation."

Überrascht wurden der Kanzler und sein Außenminister von der dramatischen Entwicklung nicht. Bereits seit Tagen gingen Lageeinschätzungen der Bundesregierung davon aus, dass sich in Belgrad eine "vorrevolutionäre Situation" zusammenbraut. Der Balkan-Sonderstab des Auswärtigen Amtes arbeitete auf Hochtouren. Ein Krisenstab wurde allerdings noch nicht gebildet. Der außenpolitische Berater des Kanzlers, Michael Steiner, sprach derweil in Paris mit der französischen EU-Ratspräsidentschaft.

Eine Antwort aus Moskau ließ auch nicht lange auf sich warten. Kaum waren die ersten Nachrichten vom Sturm auf das Parlamentsgebäude zu lesen, warnte Präsident Waldimir Putin: Würden die "Entwicklungen der vergangenen Tage" nicht gestoppt, könnte dies "schwer wiegende Konsequenzen nicht nur für Jugoslawien" haben, zitierte Interfax aus einem Brief Putins an den Moskauer Parlamentspräsidenten Selesnjow. Er, Putin, rufe zum Ende der Proteste gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl auf.

Auf der Rückreise von Indien erfuhr Putin die aus seiner Sicht wohl schlechten Nachrichten. Er wollte keinen schnellen Machtwechsel. Nun muss er Farbe bekennen, muss er sagen, ob er sich tatsächlich der westlichen Position anschließt, die ihm Bundeskanzler Schröder bei dessen Moskau-Trip versucht hat, nahezubringen. Putin aber fürchtet, dass der Westen den jugoslawischen Markt erobert, wenn Milosevic nicht mehr an der Macht ist. Putin hatte wohl gehofft, mit seiner Vermittlung zu verhindern, was jetzt eingetreten ist. Nun wird Kostunica möglicherweise keinen Bedarf mehr sehen, sich in Moskau an einen Tisch mit Putin und Milosevic zu setzen.

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