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Ralph Schulze

© Kai-Uwe Heinrich

Madrid: Bettelnd auf der Straße

Manchmal sind es eher die kleinen, alltäglichen Dinge, die viel über den Zustand einer Nation sagen und signalisieren, dass eine Gesellschaft in Not und in der Krise ist. Etwa Beobachtungen auf der Straße.

Manchmal sind es eher die kleinen, alltäglichen Dinge, die viel über den Zustand einer Nation sagen und signalisieren, dass eine Gesellschaft in Not und in der Krise ist. Etwa Beobachtungen auf der Straße. Auf dem Weg ins Büro oder nach Hause. Da fällt zum Beispiel in der spanischen Hauptstadt Madrid ins Auge, dass das Elend zunimmt, ganze Bettlerscharen in der Krise ums Überleben kämpfen.

An den Metrotreppen, vor den Supermärkten, an den Kirchenportalen, in Hauseingängen: Vielerorts hocken Menschen und halten den Passanten Schilder entgegen, auf denen steht: „Ich habe Hunger.“ Und: „Für meine Kinder.“ Oder schlicht: „Hilfe!“ Doch Bettler sind nicht Bettler. Manche sitzen mit verschämtem Gesicht und schweigend da. Andere geben jenen, die das Portemonnaie zücken, ein paar Freundlichkeiten mit auf den Weg. Zu letzteren armen und doch erstaunlich fröhlichen Seelen gehören die Vagabunden Lyndon und Jose.

Die beiden Landstreicher sind in ganz Spanien unterwegs, manchmal auch in den Nachbarländern, machen dabei immer mal wieder in Madrid Station. Üblicherweise sitzen sie hinter einem Wald aus Pappschildern, auf denen in blauen Buchstaben steht: „Für mehr Bier“, „Für Wein“, „Für Whisky“, „Für den Kater“. Wenn sie gut drauf sind, gesellt sich ein Karton mit der Aufschrift „Für andere Laster“ hinzu. Diese Bettelmasche entlockt manchem Passanten ein Lächeln. Und auch einen Euro, den man vor jenem Schild fallen lassen kann, das am besten gefällt. Wer noch auf die Idee kommt, diese beiden Gesellen mit der Handy-Kamera zu fotografieren, bekommt ein Papier unter die Nase gehalten mit dem Text: „Foto 278 Euro.“ Auch das sorgt für Lacher und hilft dem Geschäft.

„Muchas gracias“, bedanken sich die beiden und rufen dem Spender hinterher: „Besuch uns doch mal auf Facebook.“ Wie bitte? Ja, kein Witz. Auf Facebook haben die beiden Obdachlosen unter ihrem Geschäftsnamen „Lazy Beggars“ (Faule Bettler) eine Fanseite mit inzwischen mehr als 3850 Anhängern installiert. „Wir sind Bettler des 21. Jahrhunderts“, sagen die beiden grinsend.

Der jüngere der beiden Cyber-Bettler heißt Lyndon, ist „ungefähr 40“ und war früher Informatiker. Sein Kompagnon Jose, der auf die 60 zugeht, arbeitete einst als Techniker für eine Solarfirma auf den Kanaren. Bis das Schicksal die beiden, unabhängig voneinander, auf die Straße verschlug – und irgendwann auf einer Parkbank in der südspanischen Stadt Granada zusammenführte.

Bei einer Flasche Fusel beschlossen die beiden, ihr Dasein gemeinsam zu meistern und entwickelten Unternehmergeist: Sie gründeten die Bettler-Internetseite www.lazybeggers.com. „Das Internet ist wie eine große Straße.“ Im Rausch übersahen sie zwar, dass das englische Wort für Bettler „beggar“ heißt. Aber das tat der Idee keinen Abbruch. Via Webseite kann man den „faulen Bettlern“ seitdem per Kreditkarte und Paypal Almosen zukommen lassen.

Jose und Lyndon sind zwar eine Ausnahme in Spaniens wachsender Bettlerszene. Aber eine bemerkenswerte, die ein bisschen Hoffnung in der tiefen spanischen Krise macht. Weil sie dafür steht, dass es in der größten Misere noch positive Ansätze geben kann. Auch wenn die Geschäfte zuletzt spürbar schlechter liefen, weil die Spanier immer weniger Geld in der Tasche haben: 25 Prozent Arbeitslosigkeit, jede fünfte Familie unter der Armutsschwelle. Da wundert es, dass nicht noch mehr Menschen bettelnd auf Spaniens Straßen sitzen. Oder sogar ein Aufstand der Armen die konservative Regierung hinwegfegt.

Dass dies nicht so ist, hat das Königreich, in dem es kaum soziale Hilfen gibt, einer bewundernswerten Errungenschaft zu verdanken, die in nordeuropäischen Ländern schon ziemlich ausgestorben ist: Und zwar dem großen Zusammenhalt der Familien, die in Spanien immer noch das beste soziale Netz sind – und denen es glücklicherweise oft noch gelingt, die abrutschende Verwandtschaft vor der Gosse zu bewahren.

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