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Mächtige Regierung: Türkische Revolution von oben

Viele sehen das Ergebnis der Volksabstimmung über die Verfassungsänderungen in der Türkei als einen großen Schritt vorwärts – aber es gibt auch Angst, dass die Regierung zu mächtig wird.

Der Alltag hat die Türkei wieder nach den Feiertagen zum Ende des Fastenmonats Ramadan und der Volksabstimmung über die Verfassungsänderungen. In Istanbul tobt am Montagmorgen wieder der Berufsverkehr, der Straßenfeger Ahmet kehrt im westlichen Vorort Büyükcekmece die Plakatreste von der Wahlschlacht auf. Er ist zufrieden mit der Zustimmung zu den Verfassungsänderungen, für die er auch selbst votiert hat: „Die AK-Partei hat gewonnen, darüber bin ich froh.“

Nicht alle Istanbuler, die an diesem wolkigen, windigen Morgen auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkauf durch die Straßen eilen, sind glücklich über den Abstimmungssieg der religiös-konservativen Regierungspartei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Die Hausfrau Birgen etwa hegt schlimme Befürchtungen: „Wir, der aufgeklärte Teil der Gesellschaft, wir halten das für gefährlich, dass ein Ministerpräsident die Verfassung ändert“, sagt sie. „Es zeigt, dass diese Kräfte nun sehr stark sind und machen können, was sie wollen.“ Ein Gefühl der Ohnmacht findet sich bei vielen Erdogan-Gegnern nach dem Referendum. Wochenlang hatten sie für eine Ablehnung der Verfassungsänderungen, die vom Ministerpräsidenten vorgeschlagen worden waren, gekämpft. Sie warnten ihre Landsleute vor einem antidemokratischen Durchmarsch der AK-Partei zur totalen Macht – vergebens. Knapp 58 Prozent der Türken stimmten den Reformen zu. „Mir ist zum Weinen zumute“, sagt ein Mann, der seinen Namen lieber nicht nennen will. „Der Dichter Aziz Nesin hat einmal gesagt, dass 60 Prozent der Leute in diesem Land dumm sind – das hat sich jetzt wieder bestätigt.“

Einig sind sich Regierung und Opposition in der Türkei jedoch darüber, dass die Annahme der Verfassungsreform ein Meilenstein für die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen ist, die sich seit Jahren im Land abspielen. Denn ab sofort herrschen ganz neue Verhältnisse im Land. Verlierer sind die Militärs und die Säkularisten in der Justiz. Erdogan selbst verkündete das „Ende des Vormundschaftssystems“ in seinem Land. Damit meinte er die nun beschnittene Macht der Militärs und der Erz-Säkularisten in der Justiz, die sich in den vergangenen Jahren häufig gegen Reformen sträubten und seiner religiös-konservativen Regierung bisher das Leben schwer machten. Beide Gruppen werden durch das Verfassungspaket geschwächt.

Unter Erdogan drängt seit Jahren eine fromm-anatolische Mittelschicht nach oben und macht den traditionellen säkularen Eliten ihre Vormachtstellung streitig. Gleichzeitig brachte die Türkei ein Reformpaket nach dem anderen auf den Weg, um EU-fähig zu werden. All das hat Staatspräsident Abdullah Gül auf den Begriff der „lautlosen Revolution“ gebracht.

„Ja, es ist eine Revolution“, pflichtet Canan Güllü dem Präsidenten bei. Die Vorsitzende des säkularistischen Frauenverbandes TKDF erwartet aber nichts Gutes von dieser Umwälzung: „Es ist eine Revolution gegen die Republik, hin zur Diktatur“, sagt sie. „Ich habe Angst, dass die Demokratie abgeschafft wird.“

Was für die Erdogan-Gegner eine Gefahr ist, stellt aus Sicht der EU einen großen Fortschritt dar. Die EU-Kommission in Brüssel begrüßte den Ausgang der Volksabstimmung. Der türkische Europaminister Egemen Bagis sagte am Montag, der Ausgang des Referendums habe die Verhandlungsposition der Türkei gegenüber der EU gestärkt. Auch nach der Einschätzung der Istanbuler Politologin Beril Dedeoglu würden die Europäer bald erleben, dass die Türken wieder energischer an ihre Tür klopfen würden. Das Referendum stärke die Türkei sowohl im Verhältnis zur EU als auch in ihrem Ehrgeiz, als funktionierende muslimische Demokratie eine Führungsrolle in der Region zu übernehmen. mit ade

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