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Politik: Männer, die auf Gleise fallen

Von Harald Martenstein

Ein Ausländer, Italiener, ist schwer betrunken, torkelt, fällt auf Gleise und verletzt sich. Zur Polizei sagt er: Es war ein Angriff. Ausländerfeinde, Neonazis. Natürlich wird so etwas erst einmal geglaubt, sowohl in Deutschland, wo viele sich selbst und ihren Landsleuten immer das Schlimmste zutrauen, als auch in Italien.

Ich vergleiche gar nichts mit gar nichts. Jede Sache steht für sich allein, ob es nun ein großes Verbrechen ist oder ein kleines Unrecht, dass man jemandem im Privatleben oder im Büro tut. Ich denke nur ganz abstrakt über den Umgang mit Schuld nach. In der Politik heißt es immer, dass man Schuld auf gar keinen Fall „vergessen und verdrängen“ darf. Im Privatleben dagegen wird man wahnsinnig, wenn man nichts vergisst und nichts verdrängt. Wenn die Menschen nicht vergessen und nicht verdrängen würden, wäre auf diesem Planeten wahrscheinlich kein menschliches Leben möglich. Auch machen Schuldgefühle im Privatleben weder die Menschen besser, noch das Zusammenleben angenehmer. Im Privatleben kommt es darauf an, eine Schuld zu erkennen und alles Mögliche zu unternehmen, um eine Wiederholung des jeweiligen Vorfalls auszuschließen, viel mehr kann man nicht tun. Was passiert ist, ist passiert. Wer sich nicht enden wollenden Schuldgefühlen hingibt, verhält sich in gewisser Weise sogar egozentrisch, man schaut dann dauernd nur auf sich selber und wird womöglich sogar selbstmitleidig.

Ich glaube inzwischen, dass man zu Deutschland ein positives Verhältnis haben sollte. Deutschland ist keine Brutstätte des Bösen, sondern ein recht sympathisches, angenehm selbstkritisches Land, in dem man sich, mit jeder Hautfarbe, sicherer fühlen kann als in den meisten anderen Ländern. Dass es unsichere Gegenden und Rassisten gibt, denen man das Leben so schwer wie möglich machen muss, versteht sich von selbst, so etwas gibt es leider beinahe überall. Trotz allem verdient Deutschland ein bisschen Vertrauen.

Ein Betrunkener, der in Helsinki aufs Gleis stürzt, erzählt zu Hause: Das Eis, es war glatt. Ein Betrunkener im Mittleren Westen sagt vielleicht, dass ihn ein Pferd getreten hat, in Spanien war es die Hitze. In Deutschland sind es eben, hin und wieder, die Nazis gewesen. Das hat etwas angenehm Kabarettistisches, solange man nicht vergisst, dass es sich jederzeit auch um die Wahrheit handeln kann, und dass man sich nie zu sehr auf seine eigenen Vorurteile verlassen darf.

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