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2008

© Marcus Lieberenz / bildbuehne.de

Politik: Märkischer Ikarus

Nicht nur auf Erden, auch auf der Bühne war ihm (lange) nicht zu helfen: Warum sich das Theater mit Kleist so schwertut

Es gilt als ausgemacht, dass Kleist niemals eine Aufführung eines seiner Stücke gesehen hat. Das aber ist nicht die ganze Wahrheit.

Am 23. April 1811 kam es im Konzertsaal des ‚Königlichen Nationaltheaters’ am Berliner Gendarmenmarkt zu einer Premiere. Die Schauspielerin Henriette Hendel-Schütz gab, um ihr überragendes Talent im stummen Spiel zu demonstrieren, einen Solo-Abend und wählte dafür die „Penthesilea“. Dass sie damit Kleists Dichtung eben dessen beraubte, was dieses wortmächtigste deutsche Drama vor allem ausmacht, der Sprache, konnte ihrem Darstellungsdrang nicht Einhalt gebieten. Da es dann freilich so völlig stumm doch nicht abgehen wollte, bat sie ihren Ehemann um Hilfe. Und der bemühte Berliner Philosophieprofessor las aus Kleists Text das „Zweckdienliche“ dazwischen. Und Kleist sieht sich das an!

Dies, das stumme Gestikulieren einer Salondame, untermalt vom professoralen Pathos eines Laien, ist die einzige Darbietung, die Kleist von allen seinen Erfindungen – auf dem Theater – jemals erlebt hat. Und er erweist seine Referenz: „...Ihrer lieben Frau für die vortreffliche Darstellung meiner ‚Penthesilea’ meinen Dank.“

Zu wenig ist besser als gar nichts – und ein Augenblick endloser Qual. Sieben Monate später macht er der Qual ein Ende. Henriette Vogel schießt er ins Herz. Sich selber in den Mund. Er ist 34 Jahre alt.

Kleist-Rezeption? Zu seinen Lebzeiten wurden drei seiner Stücke aufgeführt. „Familie Schroffenstein“ in Graz, wovon er nicht einmal erfuhr; „Der zerbrochne Krug“ in Weimar, wo der Theaterzettel seinen Namen nicht erwähnt, und „Käthchen von Heilbronn“ in Wien, Graz und Bamberg, Aufführungen, die zum Desaster wurden. Kein Theater hat ihm jemals ein Honorar überwiesen. Er versuchte, seine Stücke vor der Drucklegung an die Theater zu verkaufen. Aber da die Theater seine Stücke nicht wollten, musste er wollen, dass sie wenigstens gedruckt wurden. Waren sie aber einmal gedruckt, brauchten die Theater den Autor nicht mehr zu bezahlen. „Die Schaubühne als moralische Anstalt“...

Und heute? Wir feiern das Todesjahr. In Frankfurt/Oder, seiner Geburtsstadt, wird das Kleist-Museum restauriert und erweitert. Und endlich – nach 200 Jahren und würdelosem Gefeilsche um die Finanzierung – ist die kritische Gesamtausgabe abgeschlossen. Aber Rezeption meint nicht nur eine verstehende Aufnahme. Es meint auch die Übernahme in die Norm und die öffentliche Auseinandersetzung.

Goethe konnte sich mit seinem mürrischen Verriss des „Amphitryon“ der Zustimmung seiner Zeitgenossen sicher sein: „Das Ende ist gar zu klatrig“. Das hieß schmutzig, verwirrt, liederlich. Eine Komödie mit vollzogenem Ehebruch, einem dafür dankbaren Feldherrn und einem göttlichen Kuckucksei als Folge?

Was sollte das sein? Götterwagnis oder Eheschwank, Lustspiel oder Mysterium? Als es 1899 – also fast ein Jahrhundert nach seiner Niederschrift – in Berlin in einer Nachmittagsvorstellung des „Vereins für historisch-moderne Festspiele“ – uraufgeführt wurde, half das auch nicht weiter. Und auch nicht, dass Thomas Mann es später als „das witzig-anmutsvollste, das tiefste und schönste Theaterspielwerk der Welt“ rühmte.

Und wie stand es um die Moral angesichts der jähen Erhebung der Handwerkertochter Käthchen zum kaiserlichen Bankert? Was hatte es mit dem Blutrausch der „Penthesilea“ auf sich und was mit dem „Zerbrochnen Krug“, dessen feist-ordinärer Richter, drohend, bettelnd und zitternd in seiner kreatürlichen Nacktheit und animalischen Fülle als unser aller „alter Adam“ am Ende losgesprochen wird?

Was immer das war, „reinlich“ war es nicht. Und mit dem „Prinzen von Homburg“ war ein preußischer Staat auch nicht zu machen. Hat es deshalb eine Kleist-Rezeption auf dem deutschsprachigen Theater nicht gegeben?

Laut einer Umfrage von „Theater heute“ gab es 1961, zum 150.Todesjahr, 2643 Premieren. Auf Kleist entfielen davon 42, gerade mal 1,5 Prozent, weit hinter Lessing, Schiller und Goethe. Und während es für diese drei, für Lessing in Hamburg, für Schiller in Mannheim und für Goethe in Weimar nicht nur einen Ort, sondern zeitweise auch ein Theater gab, mit dem sie sich identifizierten, hat es diesen Ort für Kleist nie gegeben. Er hätte Berlin sein müssen. Dass Berlin es nicht wurde, wissen wir. „Kein Ort, nirgends“ heißt Christa Wolfs Text dazu.

Die DDR, bei der Instrumentalisierung des Klassischen Erbes zum Aufbau des Sozialismus nie um Begründungen verlegen, erklärte das so: „Lessing, Schiller und Goethe vermögen die Tradition und die Perspektive unserer gegenwärtigen nationalen und sozialen Aufgabe schlüssig zu offenbaren“. Das heißt: Kunst als Schädlingsbekämpfung. Das haben auch die drei nicht verdient.

Und in der Bundesrepublik? Als sich Hans Bauer 1962 in Hamburg an die Ehrenrettung der „Familie Schroffenstein“ wagt, heißt es: „Es steht außer Zweifel: Das wieder erwachte Interesse hat Raison.“ Aber welche Raison war da gemeint, bei einem Stückschluss, in dem ein Blinder sieht und ein Irrsinniger ausspricht, dass „die ganze Geschichte“ nur ein Versehen war. Das Versehen der jüngsten, der eigenen Geschichte? Und wie spielt man das dann? Als Schicksalstragödie, als Possenspiel oder als Farce?

Eine schlichtere Nutzanwendung bot da der „Zerbrochne Krug“, der es in den Siebzigern zu Kleists meistgespieltem Stück bringt. Soll da die Komödie vom Sündenfall – wir befinden uns auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen – dazu herhalten, sich vom eigenen Sündenfall zu exkulpieren? Urvater Adam, der sich verbissen an die Insignien seiner Macht klammert, während draußen eine jüngere Generation mit der Parole „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“ gegen die Komplizenschaft der Väter protestiert? Bei Kleist hieß das: „Ei was, der Richter dort! Selbst Wert vor dem Gericht, ein armer Sünder, dazu stehn.“

Dann, endlich, kommt es zu drei Aufführungen, die Kleist nicht mehr opportunistisch instrumentalisieren. Und die prompt Theatergeschichte schreiben, Kleist-Geschichte – bis heute unerreicht in der Tiefe und Substanz ihrer Auseinandersetzung. 1972 inszeniert Peter Stein an der Berliner Schaubühne den „Prinzen von Homburg“. Nach der Uraufführung 1821 in Berlin hatte des Königs Privatsekretär am nächsten Tag an den Intendanten geschrieben: “ Des Königs Majestät haben befohlen, dass das gestern aufgeführte Stück niemals wieder gegeben werden soll.“ Auch Fontane ärgerte sich noch: „In Fehrbellin gibt es kein Schloss. Ein gefangener Prinz kann nicht auf eine halbe Stunde eine Prinzessin besuchen; Brandenburgische Obristen versammeln sich nicht zu harmloser Meuterei und kein Kurfürst von Brandenburg sagt, wenn das Kriegsgericht gesprochen hat, der Verurteilte möge doch selbst entscheiden.“

Ähnlich Brecht: „Oh, Garten, künstlich in dem märkischen Sand!/ Oh, Geistersehn in preußischblauer Nacht!/ Oh Held, von Todesfurcht ins Knien gebracht!/ Ausbund von Kriegerstolz und Knechtsverstand!/ Rückgrat, zerbrochen mit dem Lorbeerstock!/ Du hast gesiegt, doch war’s Dir nicht befohlen./ Ach, da umhalst nicht Nike Dich! Dich holen/ Des Fürsten Büttel feixend in den Block./ So sehen wir ihn denn, der da gemeutert/ Durch Todesfurcht gereinigt und geläutert/ Mit Todesschweiß kalt unterm Siegeslaub./ Sein Degen ist noch neben ihm: in Stücken./ Tot ist er nicht, doch liegt er auf dem Rücken:/ Mit allen Feinden Brandenburgs in Staub.“

Das ist brillanter antipreußischer Furor. Aber vom Autor der „Maßnahme“ doch auch einigermaßen unverfroren.

Gegen ebendiese historisierende Mäkelei wandte sich Peter Stein 1972. Um die andere Perspektive deutlich zu machen, änderten Stein und sein Dramaturg Botho Strauss den Titel in „Kleists Traum vom Prinzen von Homburg“. Das wird bemerkt, aber nur unter Vorbehalt akzeptiert. Fontane und seine Parteigänger hatten ja recht, dass es dieses Preußen nie gegeben hat. Nur schlossen sie daraus, dass dann das Theater die „Irrtümer“ Kleists in der Inszenierung korrigieren müsse. Das Neue des Konzepts aber war, dass Kleist das Stück eben um dieser „Irrtümer“ willen geschrieben hatte. Und dieser „Irrtum“ ist der Traum von einem anderen Preußen – und nicht fünf Akte über einen verträumten Prinzen. Ungeachtet der streng materialistischen Hamburger Inszenierung von Karge/Langhoff, die den „Prinzen“ auf einen Kartoffelacker verpflanzt, wird die Berliner Inszenierung zur wohl erfolgreichsten des Stückes überhaupt.

Noch übler erging es der „Penthesilea“. Als 1954 das Hamburger Schauspielhaus die erste Wiederaufführung wagt, wird das Stück kurzerhand für unspielbar erklärt. Dann aber kommt es 1981 im Berliner Schillertheater zu einer Arbeit von Hans Neuenfels, die versucht, es mit dem Wahnsinn, dem Widerspruch, dem unbedingten Gefühl, der Lebensgefahr der Liebe, der Vernichtung der Individuen und der Wucht der Sprache aufzunehmen. Elisabeth Trissenaar ist die Penthesilea, schön, wild, berauscht in den leisen Tönen ihres Liebeseingeständnisses wie im Wahnsinn der schreienden Tötungslust. Begreiflicherweise konzentrieren sich die Erwartungen auf das grausame Abschlachten Achills; also jener Szene, die vor allem dafür verantwortlich ist, dass „Penthesilea“ zum meist gefürchteten Drama deutscher Sprache wurde.

Neuenfels geht in seiner Anstrengung, die Sprache Kleists ins Spiel zu zwingen so weit, dass Penthesilea auf allen Vieren kriechend die Verse herausbellt und hechelnd eins wird mit ihrer unsichtbaren Meute. Es war, so hieß es, die bisher einzige Aufführung , die dem Wahnsinn des Textes, dieser Orgie der Erregung, nahe- kam. Und sie ist es bis heute geblieben.

Die dritte Aufführung, die sich nicht besserwisserisch-korrigierend um den Text bemüht, gelingt 1982 Claus Peymann mit der „Hermannsschlacht“ in Bochum. Das Stück, hasserfüllt und kriegslüstern, ist Kleists letzter verzweifelter Versuch wenigstens einmal – im Augenblick der nationalen Erhebung 1810 – dazuzugehören. Es wird nicht einmal gedruckt. Und er, der sich zum größten Dichter der Nation hinaufträumte, haust in der Mauerstrasse: als Gardeleutnant verabschiedet, als Student entlaufen, als Beamter entlassen, als Liebhaber gescheitert, als Journalist falliert. In seinem schäbigen Zimmer liegt er tagelang im Bett, um Kohle und Kleidung zu sparen: ein märkischer Sisyphus, der sich wieder und wieder zum märkischen Ikarus hinaufträumt und abstürzt.

Peymann nun liest den Text parteinehmend gegen die Absichten des Autors und also mit den Augen des Dichters. Und der Text bekommt Raum für die Ambivalenz von Gewalt und Gelächter. Zeigend, dass Gewalt menschenverachtend und lächerlich zugleich sein kann. Ohne den Text zu ändern, zu manipulieren, zu verflachen, lediglich indem er die ironischen Brechungen und Schattierungen hörbar macht, gelingt es ihm, das Genie hinter dem Pamphlet freizulegen. Es wird der wohl größte Überraschungscoup eines Kleistdramas in der Nachkriegszeit.

Drei Beispiele dafür, dass – bis heute – das Kostbare die mitleidende Ambivalenz dieses Dichters ist, und diese gelten zu lassen, das Schwierige.

Bleibt noch Ulrich Matthes’ Abend „Kleist. Geschichte einer Seele“ zu nennen. 1994 erarbeitet und bis heute gespielt (wieder am Todestag, am 21. November), auch ein Soloabend, freilich der ganz anderen Art, mit der Matthes die bislang schönste, leiseste, sensibelste Annäherung an den unseligen Mann gelingt, dem „auf Erden nicht zu helfen war“ – so das bittere Resumee Kleists an seine Halbschwester Ulrike angesichts eines Theaters, das sich in den Kulissen eingerichtet hatte, aber dort dann doch lieber nicht wissen wollte, was gespielt wurde.

Bleibt die Frage, ob sich denn sonst auf der Kleist-Bühne so gar nichts bewegt hat und bewegt? Doch, durchaus. Des verehrungswürdigen Klaus Michael Grübers „Amphitryon“ im Berliner Hebbeltheater etwa oder Adolf Dresens „Homburg/Krug“-Doppelabend am Deutschen Theater. Patrice Chéreau nicht zu vergessen, der Kleist für Frankreich eroberte, Luk Perceval an der Schaubühne, der späte Peymann am BE, die Jungen wie Armin Petras oder Jan Bosse, andere. Aber substanziell war der Gewinn nicht.

Bleibt außerdem die Frage, warum jenes Substanzielle sämtlich erst nach dem zweiten Weltkrieg erarbeitet wurde? Hat es mit dem zu tun, was Golo Mann „unsere Erfahrungen“ nennt: „ Wer die 30er und 40er Jahre als Deutscher durchlebt hat, der kann seiner Nation nie mehr völlig vertrauen ... er kann dem Menschen überhaupt nicht mehr völlig vertrauen und am wenigsten dem, was Optimisten den Sinn der Geschichte nennen.“

Sind wir illusionsloser und hellsichtiger geworden – also Kleist nähergekommen? „Aufklärung“ hieß die europäische Bewegung, die den Menschen zur Vernunft bringen wollte, „Erziehung“ ihr Zauberwort. „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ bei Lessing; bei Schiller die „Aesthetische Erziehung des Menschen“. Noch nichts von Schopenhauers Einsicht: „Wer vom Hass beseelt eindränge auf seinen verhasstesten Widersacher und bis in das Tiefinnerste desselben gelangte, der würde in diesem zu seiner Überraschung sich selbst entdecken.“

Nach dem Krieg, so Benjamin Korn, „hatten auf einmal die manichäistischen Begriffe den Stuhl gewechselt. Nicht mehr die Juden, der französische Erzfeind oder das perfide Albion waren die Inbegriffe des Bösen in der Geschichte, sondern wir. Wir sahen uns entsetzt an und mussten begreifen, dass die Übeltäter nicht die Anderen waren, sondern Menschen – wie wir.“

Adam und Eva, Hermann und Kohlhaas, Penthesilea und Käthchen. Kleist zu erkennen, solle man nicht Kant, sondern de Sade lesen, fordert einer seiner hellsichtigsten Kritiker. Vielleicht sind wir jetzt so weit, 200 Jahre nach seinem Tod, es uns einzugestehen, dass wir es nicht mit dem „Neuen Menschen“, sondern noch immer mit dem Alten Adam zu tun bekommen, wenn wir uns auf Kleist einlassen und uns selbst auf die Schliche kommen wollen. Der Beginn einer „Kleist-Rezeption“ - nicht nur auf unserem Theater?Der Autor ist Theatermann und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

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