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Politik: Marianne Birthler: Im Haus des DDR-Generalstaatsanwaltes

Wolf Biermann ist gekommen und kann seine eigene Spiegelschrift kaum noch lesen. Denn verkehrt hat er Marianne Birthler "günstigen Wind" gewünscht, "wenn sie nun auf Gaucks Galeere ins offene Meer kommt, bedroht von Klippen, Medienstürmen und Untiefen.

Wolf Biermann ist gekommen und kann seine eigene Spiegelschrift kaum noch lesen. Denn verkehrt hat er Marianne Birthler "günstigen Wind" gewünscht, "wenn sie nun auf Gaucks Galeere ins offene Meer kommt, bedroht von Klippen, Medienstürmen und Untiefen. Aber nicht von Wolf Biermann." Ein Abschiedsgeschenk für die neue Leiterin der Gauck-Behörde. Biermann hat seine Stasi-Ballade mit feiner Handschrift samt Noten aufgeschrieben, im Büro des Grünen-Fraktionschefs Rezzo Schlauch hat man sie ordentlich eingerahmt.

Biermann ist der Überraschungsgast für die "kleine Bürofeier", die Marianne Birthler erwartet hat. Als grüne Fraktionsmitarbeiterin für Personalentwicklung hat Birthler bis am Dienstag in der Luisenstraße 32, Raum 1127, gearbeitet. Biermann und Birthler kennen sich nicht. Irgendwann in den 70ern hat die ihm Unbekannte dem Liedermacher einmal zugehört, den Mitschnitt hat sie heute noch. Biermann ist gekommen, weil er ihren Rücktritt als Ministerin unter Manfred Stolpe gut fand. Und wegen der Adresse.

Luisenstraße? Das war, wie Biermann, der ehemalige Bewohner der Chausseestraße, weiß, früher die Hermann-Matern-Straße. In der residierte der Generalstaatsanwalt der DDR, und in diesem Gebäude hat die grüne Bundestagsfraktion heute ihre Büros. So kommt es, dass im Jahr 2000 Wolf Bierman im prächtigen Treppenhaus der Luisenstraße 32 - 34 die folgende Geschichte aus dem Jahr 1975 erzählt: Da klingelt es eines Morgens in der Chausseestraße, und an der Tür steht eine Frau, die weint. Denn ihr Sohn, ein angehender Arzt, hatte ein Biermann-Gedicht zweimal abgetippt und die Durchschläge verteilt, was ihm dreieinhalb Jahre eingebracht hatte. Er weigere sich, in den Westen entlassen zu werden, weil Biermann die Kritischen zum Bleiben aufgefordert hat. Sie sind schuld, sagt die Mutter zu Biermann, machen Sie was. Worauf dieser auf seiner Erika-Schreibmaschine an "Generalstaatsanwalt Dr. Josef Streit" schreibt und die Haftentlassung des jungen Mannes verlangt. Der junge Mann, erzählt Biermann, sei sofort entlassen worden - und zwar in die DDR, wo er auch heute noch nahe Dresden als Arzt arbeitet.

Biermanns Geschichte aber geht an diesem Tag im Jahr 1975 weiter. Denn hochaufgeregt wirft er sich in seinen Lada, den Brief auf dem Beifahrersitz, Invalidenstraße, an der Charité vorbei und unter der S-Bahn durch. Den Mercedes 190, der ihm wie üblich folgt, vergisst er schnell. Denn im Kopf entwirft Biermann kühne Worte an den Generalstaatsanwalt und plant seinen Auftritt: "Ich wollte als kleiner Drachentöter hineingehen." In der leeren Hermann-Matern-Straße findet sich ein günstiger Parkplatz, Biermann greift nach seinem Brief und öffnet. "In diesem Moment, da schießt der graue Mercedes 190 vorbei und darin drei von diesen arbeitsscheuen Gestalten." Zehn Zentimeter haben gefehlt, und es hätte das Leben gekostet. "Mir schlotterten die Knie. Ich hatte allen Mut verloren. Ich habe meinen Brief wie ein kleiner Junge abgegeben." 40 Kilometer fährt Biermann zu Havemann: "Robert, die wollten mich totfahren." Havemann gibt zwei Ratschläge: Erzähl das bloß keinem, denn die haben schon alle Angst, und zweitens musst du eben besser aufpassen. "Jetzt bin ich zum zweiten Mal in diesem Haus", sagt Wolf Biermann zu Marianne Birthler, "und du bist die Gelegenheit".

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