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Stunde des Jubels. Feiernde Menschen auf der Berliner Mauer am 11. 11. 1989.

© dpa

Mauerfall: Der Tag, an dem Deutschland französisch wurde

Unsere Kolumnistin Pascale Hugues gilt inzwischen als „Veteranin“ - weil sie als einzige französische Auslandskorrespondentin den 9. November 1989 in Berlin miterlebte. Eine Nacht wie im Traum - so war ihr Artikel später überschrieben. Und wie im Traum hat sich auch Deutschland verändert. Eine Erinnerung.

Da ist ja unsere Veteranin!“ So begrüßten mich neulich bei einem Pressefrühstück meine französischen Kollegen – Auslandskorrespondenten in Berlin. Tatsächlich hatte ich als Einzige den Fall der Mauer miterlebt. Und ich hielt den Atem an: Jetzt gehöre ich schon in die Kategorie der Zeitzeugen. Werde ich in ein paar Jahren als Greisin mit zittriger Stimme von den vorsintflutlichen Begebenheiten erzählen, eine der Letzten, die noch leibhaftig dabei war?
Auf meinem Regal liegt ein großes Stück Mauer, das ich selbst herausgebrochen habe, auf Kosten eines Fingernagels. Oft fällt mein gerührter Blick darauf. Was für ein unglaubliches Glück, dass ich in genau jener Nacht in Berlin war! Welch ungeheures Privileg, dass ich das für die europäische Geschichte bedeutsamste Ereignis seit Kriegsende miterlebt habe! Deshalb nutze ich das Vorrecht der Veteranen und erzähle Ihnen von meiner Nacht an der Mauer.

Redaktionsschluss schon um 20 Uhr

Nach Günter Schabowskis kryptischer Pressekonferenz mit dem Zettel, den er aus der Tasche zog, ohne so recht zu wissen, wie er ihn zu deuten habe, war ich zurück ins Palasthotel in Ostberlin gelaufen, Hauptquartier der Auslandspresse während der Wende. Monatelang wohnte ich in einem Zimmer Nase an Nase mit dem Dom.

Zu jener Zeit war der Redaktionsschluss in den französischen Zeitungen spätestens um 20 Uhr, und das Internet gab es noch nicht. Endlich stand meine Leitung nach Paris, und ich hörte die ungerührte Stimme des Chefs vom Dienst. Er war ganz allein in der Redaktion und lachte nur: „Mach dich nicht verrückt! Bei uns wird gerade gestreikt!“ Meine damalige Zeitung Libération würde am 10. November also nicht erscheinen.

Im Nachhinein verdanke ich meine Glaubwürdigkeit als geopolitische Kassandra also der Radikalität der französischen Gewerkschafter. Denn ehrlich gesagt: Um 20 Uhr am 9. November hätte ich niemals zu schreiben gewagt, dass die Mauer noch in derselben Nacht fallen würde. Der Gedanke an ein solches Erdbeben streifte mich nicht einmal. Ich stürzte zur Menge am Checkpoint Charlie und legte mich auf die Lauer. Plötzlich öffnete sich der Schlagbaum, und die menschliche Woge strömte zur anderen Seite der Mauer hinüber. Den Rest der Nacht verbrachte ich mit einem ostdeutschen Paar. Er hieß Karl-Heinz und war Koch. Sie hieß Sabine, in ihrem Portemonnaie hatte sie ein Foto ihrer beiden Kinder.

Ohne Visum, ohne Stempel waren sie durch die Mauer gekommen. In zwei Minuten hatten sie 28 Jahre Erstarrung überwunden. Schmächtig, blond, klammerten sie sich aneinander wie zwei Schiffbrüchige, sie taumelten über die Fußwege, die vor Menschen schwarz waren. Sie wollten die überquellenden Schaufenster des KaDeWe sehen, die sich an den Bürgersteigen drängenden Autos. Als die Nacht zu Ende war, kehrten sie nach Hause zurück. Ich habe sie nie wieder gesehen. Wissen sie überhaupt, dass ihre begeisterten und verschreckten Gesichter vor 25 Jahren der Aufmacher in einer französischen Zeitung waren, unter dem schönen Titel: „Une nuit à dormir debout“ etwa: Eine Nacht wie im Traum.

Jedes Mal, wenn ich die Bilder im Fernsehen sehe, kommen mir die Tränen

Jedes Mal, wenn ich im Fernsehen die Ostdeutschen sehe, wie sie von der anderen Seite der Mauer hereinströmen, wenn ich diese verblichenen krusseligen Dauerwellen sehe, die ausgewaschenen Jeansjacken und die verstörten Augen, kommen mir die Tränen. Unkontrolliert. Die Gefühle überschwemmen mich. Und ich weiß, dass ich nicht allein bin. Denn in jener Nacht weinten nicht nur die Deutschen. Ganz Europa war ergriffen. Die Geschichte wendete sich. Die Nachkriegszeit war vorbei. Den Deutschen geschah etwas, wie es die Franzosen lieben: spektakulär, historisch, emotional. Mit einem Mal faszinierte uns Deutschland, dieser langweilige und bis dahin in sein materielles Wohlergehen eingesponnene Nachbar.

25 Jahre später ist alles Routine. Mit skeptischem Blick beobachten wir Europäer den wirtschaftlich so mächtigen Nachbarn, der uns seine Politik der Haushaltsdisziplin auferlegt. Wir kritisieren das „Diktat“ der Kanzlerin der kleinen Schritte. Wir staunen – und freuen uns vielleicht klammheimlich –, dass der Streik der Lokführer das ganze Land lahmlegt, wie sonst bei uns. Deutschland weckt Neid und Gereiztheit, aber es macht niemandem mehr Angst. Es ist sogar ein Land wie unseres geworden.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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