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© dpa

Medizinethiker: "Es kann legitim sein, teure Medizin zu verweigern"

Medizinethiker Reinhard Merkel über die Folgen teurer Arzneien und die Haltung von Gesundheitsministerin Schmidt.

Ärzte, die Menschen helfen sollen, reden über die Rationierung medizinischer Leistungen. Ist das nicht unethisch?



Es wäre unethisch, wenn es genug Geld gäbe. Vor dem Hintergrund der Mittelknappheit jedoch und mit Blick auf die Altersstruktur der Bevölkerung gilt das Gegenteil: Es ist ethisch geboten.

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nennt die Debatte menschenverachtend.

Die Bemerkung der Ministerin ist nicht nur unverständlich, sie ist geradezu bizarr. Und sie bezog sich ja noch nicht einmal auf Rationierung, sondern nur auf die Forderung nach einer Priorisierung, also nach einer Anordnung der Reihenfolge medizinischer Bedürftigkeit, wie sie die Ärztekammer gefordert hat.

Der Ärztepräsident argumentiert, dass längst heimlich rationiert wird. Was ist besser daran, wenn dies offen geschieht?

Die offene Rationierung ist ethisch eindeutig vorzugswürdig, denn nur so ist eine gleiche, sozial konsistente Handhabung zu gewährleisten. Verdeckte Rationierung dagegen überlässt die Entscheidung im Wesentlichen dem einzelnen Arzt und der Situation vor Ort. Das ist ethisch nicht akzeptabel, weil es keinerlei Gewähr für eine gleichförmige Anwendung der Rationierungskriterien bietet.

Dem Betroffenen kann das doch egal sein. Für ihn zählt: Wenn er später drankommt, muss er länger leiden. Oder früher sterben.

Wer eine Maßnahme gar nicht bekommt oder länger mit seinem Leiden unbehandelt bleibt, dem ist es tatsächlich egal, auf welcher Grundlage diese Entscheidung getroffen wurde. Aber sie ist ihm gegenüber nur legitimierbar, wenn ihm gesagt werden kann: Du bist nicht allein davon betroffen. Alle anderen in vergleichbarer Situation müssen es genauso hinnehmen.

Bisher war die Debatte ja noch harmlos. Der Ärztepräsident fordert, banale Erkrankungen nachrangig zu behandeln. Die Kassen aber wollen jetzt auch darüber reden, ob teure Arznei immer zu erstatten ist.

Die Debatte erhält dadurch eine neue Dimension. Aber wir reden von Tatsachen. Durch die Entwicklung der sogenannten Pharmakogenomik, die Zuschneidung auf die genetische Disposition des individuellen Kranken, werden wir in absehbarer Zeit eine Menge sehr teurer, aber auch sehr wirksamer Medikamente bekommen. Und es ist bereits eine Form der Rationierung, wenn die Zeit zwischen der Entwicklung und der allgemeinen Anwendbarkeit gestreckt wird. Legitimierbar ist das alles nur, wenn es offengelegt wird. Wenn die Strategie der Zeitstreckung verglichen und abgewogen wird mit anderen Rationierungsstrategien. Und wenn über die jeweils vorzugswürdige ein politischer Konsens erzielt ist.

Was ist mit bereits verfügbaren Mitteln: Dürfen die Kassen die Erstattung aus Kostengründen verweigern, obwohl die Arznei wirksam ist und es keine Alternative gibt?

Sie dürfen es nur, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss das Medikament aus Kostengründen nicht in den Katalog der zu erstattenden Mittel aufgenommen hat. Es kann also legitim sein – aber nur, wenn sichergestellt ist, dass dieses Mittel jedem Kranken in vergleichbarer Situation vorenthalten wird. Nicht akzeptabel ist es, die gewollte Verweigerung über Budgetgrenzen an einzelne Ärzte durchzugeben. Und generell gilt: Je stärker Gesundheit und Leben bedroht sind, desto problematischer ist das Vorenthalten solcher Mittel.

Welche Kriterien sollten für den von Ihnen geforderten Verteilungsmechanismus gelten. Der Preis? Oder das Patientenalter?

Wegen der demografischen Veränderung wird das Alterskriterium wohl eine zunehmende Rolle spielen. Isoliert gesehen aber ist das nicht akzeptabel, denn es ignoriert die individuelle Bedürftigkeit des Menschen. Jeder möchte den nächsten Tag erleben – ob er 20 oder 90 Jahre alt ist. Und bei jedem sollte dieser Wunsch als gleichwertig akzeptiert werden. Allerdings gibt es für das generelle Verbot der Altersrationierung, das ich jetzt postuliere, eine Grenze. Sie erwächst aus einem anderen Kriterium: der medizinischen Effizienz. Mittel zu verabreichen, die nicht helfen, ist gerechtigkeitsethisch untersagt, denn das wäre ja Verschwendung.

Und wenn die Arznei nur wenig hilft? Oder – bei alten Menschen – nicht mehr so lange?

Wenn man Effizienz im Erzielen einer längeren Lebensdauer ausdrückt, dann sind alte Patienten immer schlechter dran – weil sie so oder so kein so langes Leben mehr vor sich haben. Das fließt in die Effizienz natürlich mit ein. Und Effizienz ist ein, wenn auch sekundäres, Gerechtigkeitskriterium. Hier ist also das Einfallstor zur Berücksichtigung des Alters bei der Verteilung medizinischer Leistungen. Allerdings muss das äußerst zurückhaltend gehandhabt werden. Und das zeigt nur: Wir stehen am Anfang einer extrem schwierigen Diskussion.

Wie ist es mit selbst verschuldeten Krankheiten? Muss die Allgemeinheit für Raucherlungen finanziell geradestehen?

Selbstverschuldung ist aus meiner Sicht als Rationierungskriterium grundsätzlich zulässig. Allerdings brauchen wir gesicherte Kausalitäten. Der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs ist zwar statistisch eindeutig belegt, aber individuell niemals konkret nachzuweisen. Deshalb müssen wir uns hier zurückhalten. Besser wäre es, die Tabaksteuer weiter zu erhöhen und davon einen definierten Anteil für die Krankenkassen abzuzweigen. Dass dies nicht längst geschieht, ist ohnehin schwer zu verstehen.

Bei gefährlichen Sportarten wäre die Kausalität leichter nachzuweisen.

Klar, hier können wir sagen: Der Unfall beruht darauf, dass Ski gelaufen oder mit dem Fallschirm gesprungen wurde. Für solche Risiken ist die Allgemeinheit nicht zuständig, das muss privat versichert sein. Aber was machen wir mit anstrengenden Berufen, mit Menschen die sich Stress im Job auferlegen? Manager, Chirurgen, Journalisten? Auch die leben oft ungesund. Die Diskussion über individuelle Verantwortlichkeit ist noch schwieriger als die über das Alterskriterium.

Reinhard Merkel ist Medizinethiker und lehrt Strafrecht und Rechtsphilosophie in Hamburg. Er hat sich auch mit dem Thema Euthanasie beschäftigt. Die Fragen stellte Rainer Woratschka.

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