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Jörg Ziercke - Chef des BKA.

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Exklusiv

BKA-Chef warnt: "Deutschland ist Anschlagsziel"

Der Präsident des Bundeskriminalamtes warnt im Tagesspiegel-Interview vor islamistischen Zellen in Deutschland. Jörg Ziercke über die Probleme der Ermittler und den 11. September 2001.

Herr Ziercke, wie haben Sie die Anschläge am 11. September 2001 erlebt?

Wie viele andere Bürger in Deutschland auch, live am Fernseher. Meine erste Reaktion war: das ist unvorstellbar. Unmittelbar danach kam jedoch gleich der Verdacht, dass es sich um einen Terrorangriff handeln könnte. Ich war damals Leiter der Polizei-Abteilung im Innenministerium von Schleswig-Holstein und habe sofort mit meinen Kollegen in den anderen Bundesländern Kontakt aufgenommen. Wir haben uns zu einer Sondersitzung verabredet, außerdem fand noch am selben Tag eine Krisensitzung mit dem damaligen Innenminister von Schleswig-Holstein, Klaus Buß, und der Polizeiführung des Landes statt.

Was geschah danach?

Schon bald konkretisierten sich die ersten Hinweise, dass einige der Selbstmordpiloten aus Hamburg stammten. Angesichts dieses Umstandes stellte sich die Frage, ob es in Deutschland noch weitere Terroristen, möglicherweise sogar Terrorzellen, gibt. Schnell musste eine Strategie zum Aufspüren so genannter "Schläfer" entwickelt werden. Dabei war klar: wir dürfen dem Terror nicht weichen, der Rechtsstaat muss sich wehren. Aber wir waren überrascht. Uns wurde bewusst, dass sich die Sicherheitsbehörden in Deutschland noch stärker vernetzen müssen und eine intensivere Zusammenarbeit auch mit den Ausländerbehörden notwendig ist. Im Zuge des Maßnahmenpakets haben die Sicherheitsbehörden dann auch eine Rasterfahndung durchgeführt .

Die bei der Suche nach islamistischen Terrorverdächtigen kaum etwas gebracht hat.

Das sehe ich anders. Wir konnten zwar die Rasterfahndung erst Monate später einleiten, weil es Anlaufprobleme gab. Aber wir haben gespürt, dass die islamistische Szene auf die Rasterfahndung reagiert. Es reisten plötzlich Leute aus und wir wurden auf Verdächtige aufmerksam, die bis dahin nicht bekannt waren. Das führte zu mehreren Strafverfahren. Stellen Sie sich vor, wir hätten auf die Rasterfahndung verzichtet und es hätte neben der Hamburger Zelle noch eine in Berlin, in Frankfurt oder sonst wo gegeben. Wie hätte es die Polizei verantworten können, dieses Instrument nicht einzusetzen? Gleichwohl ist die Rasterfahndung ein Instrument, das man nur in einem außergewöhnlichen Fall anwenden kann. Den hat es nach dem 11. September nicht mehr gegeben. Zumal die islamistische Szene in Deutschland heute sehr vielschichtig ist, so dass eine Rasterfahndung derzeit nicht greifen würde.

Ist demnach die Gefahr, die der islamistische Terror für Deutschland bedeutet, nach dem 11. September noch gewachsen?

Deutschland war in den neunziger Jahren ein Ruhe- und Rückzugsraum islamistischer Terroristen und wurde dann, wie nicht nur das Beispiel der Zelle um Mohammed Atta zeigt, ein Raum der Vorbereitung von Aktionen. Ende Dezember 2000 konnte die Meliani-Gruppe gerade noch rechtzeitig festgenommen werden, die von Frankfurt/Main aus einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Straßburg plante. Heute ist Deutschland selbst Anschlagsziel wie unzählige weitere Regionen weltweit. Das betrifft nicht nur US-amerikanische, britische, jüdische und israelische Einrichtungen in der Bundesrepublik. Es gibt eine Strategie der islamistischen Terrorszene gegen Deutschland, das haben die sieben gescheiterten Anschlagsversuche in der Bundesrepublik deutlich gezeigt. Und im vergangenen Jahr die Propagandaoffensive mit den vielen Drohbotschaften vor der Bundestagswahl 2009. Die Akteure sind neben Al Qaida vor allem türkischsprachige Gruppierungen wie die Islamische Bewegung Usbekistans und die ebenfalls usbekische Islamische Dschihad Union, zu der auch die Sauerlandgruppe zählte. Außerdem beunruhigen uns die ständigen Reisebewegungen militanter Islamisten zwischen der Bundesrepublik und dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet.

Wieviele Islamisten stellen eine akute Bedrohung für Deutschland dar?

In Deutschland selbst stufen wir derzeit 131 Personen als so genannte Gefährder ein. Das sind Personen , von denen wir annehmen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblichem Ausmaß begehen könnten. Hinzu kommt ein näheres Umfeld von 278 so genannten relevanten Personen. Das können beispielsweise Führungspersonen sein, die selbst kaum in Erscheinung treten, oder auch Unterstützer, die den Gefährdern finanziell oder auf andere Weise helfen. Die Zahl der Gefährder ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Vor einigen Jahren waren wir noch bei 60, jetzt sind es schon besagte 131. Auch das ist als Signal zu interpretieren, dass die Gefahr nicht abnimmt, auch wenn wir keine Hinweise auf unmittelbar bevorstehende Anschläge in Deutschland haben. Inzwischen sind in Deutschland 352 Ermittlungsverfahren gegen islamistische Terrorverdächtige anhängig, bei der Bundesanwaltschaft und in den Ländern. 119 der Verfahren haben einen Bezug zu Afghanistan und Pakistan. Das betrifft vor allem die Anschläge auf deutsche Soldaten, die regelmäßig durch das Bundeskriminalamt bearbeitet werden.

Was treibt die Islamisten an, die aus Deutschland ins pakistanisch-afghanische Grenzgebiet reisen: wollen die meisten eher dort im Dschihad sterben oder ist die Tendenz stärker, nach Ausbildung an Waffen und mit Kampferfahrung in Deutschland zuzuschlagen?

Seit Anfang 2009 registrieren wir verstärkt Ausreisen und Ausreiseversuche von Personen aus dem gewaltbereiten islamistischen Spektrum. Und es kommen Leute zurück. Um die kümmern wir uns ganz besonders. Das Problem der Ausbildung in Terrorlagern begann allerdings schon in den neunziger Jahren. Wir kennen rund 220 Personen mit Deutschland-Bezug, beispielsweise Konvertiten und Migranten mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die eine paramilitärische Ausbildung erhalten haben sollen oder eine solche zumindest beabsichtigen. Bei 70 Personen haben wir sogar konkrete Hinweise, dass sie in Terrorcamps eine paramilitärische Ausbildung absolviert haben. 40 Personen haben Kampferfahrung aus Gefechten in Afghanistan. Der Wunsch, in Afghanistan gegen die Amerikaner und so genannte "Ungläubige" überhaupt zu kämpfen, ist groß. Einige sind dabei ums Leben gekommen, so zum Beispiel Eric Breininger, ein Mann aus dem Umfeld der Sauerlandgruppe.

Wie viele kommen nach Deutschland zurück, um den Heiligen Krieg hier fortzuführen?

Erkennbar ist zumindest, dass sich etwa die Hälfte der 220 angesprochenen Personen derzeit in Deutschland aufhält. Zehn von ihnen befinden sich in Haft. Andere, auch ehemalige Kämpfer, befinden sich jedoch auf freiem Fuß und stehen im besonderen Fokus der Sicherheitsbehörden. Außerdem haben die Sicherheitsbehörden seit Anfang 2009 immerhin 26 Ausreisen von gewaltbereiten Islamisten verhindert.

Warum war das BKA dagegen, in Pakistan den aus Deutschland stammenden Rami M. zur deutschen Botschaft kommen zu lassen, als er im Juni seinen Ausstieg aus der Terrorszene ankündigte?

Rami M. ist seit Ende August wieder in Deutschland und befindet sich in Untersuchungshaft. Ihn in die deutsche Botschaft in Islamabad kommen zu lassen, wäre viel zu gefährlich gewesen. Aus unserer Sicht, die wir aus den uns damals vorliegenden Anhaltspunkten und Hinweisen entwickelten, bestand ein nicht zu vertretendes Sicherheitsrisiko für die deutsche Botschaft bzw. das dort eingesetzte Personal. Deshalb haben wir die pakistanische Polizei informiert. Festgenommen hat ihn dann jedoch das Militär, offenbar war es ein Zufall. M. soll bewaffnet gewesen sein und sich mit einer Burka getarnt haben. In Deutschland droht ihm nun eine Anklage, unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und wegen der paramilitärischen Ausbildung in einem Terrorcamp.

Welchen Gefahren sind die BKA-Beamten ausgesetzt, die in Afghanistan und Pakistan Dienst tun?

Derzeit sind acht Vollzugsbeamte des Bundeskriminalamts in Afghanistan eingesetzt, je zwei in Kabul und Kundus. Mit vier weiteren Beamten beteiligt sich das BKA auch an der Ausbildung der afghanischen Polizei im Rahmen der EUPOL-Mission. Außerdem haben wir einen Verbindungsbeamten nach Pakistan entsandt. Das persönliche Risiko der in Afghanistan eingesetzten Mitarbeiter darf man nicht klein reden. Im August 2007 kamen drei BKA-Beamte in Kabul ums Leben, als ihr Fahrzeug in eine Sprengfalle geriet. Ein vierter Beamter wurde verletzt. Die Beamten waren zum Schutz des deutschen Botschafters eingesetzt. Und es gibt weitere Beispiele für Angriffe auf deutsche und andere europäische Polizisten, die in Afghanistan Dienst tun. Angesichts der hohen Gefährdung durchlaufen unsere Mitarbeiter vor ihrem Einsatz ein besonderes Vorbereitungsprogramm. Im Übrigen setzten wir in Krisenregionen nur Freiwillige ein.

Wie beteiligt sich das BKA in Afghanistan an der Fahndung nach Terroristen?

Sofern wir Tatverdächtige in Afghanistan vermuten, warnen wir beispielsweise auch mit Fahndungsplakaten vor Ort. Zudem geben wir unsere Erkenntnisse an die afghanische Polizei weiter. An operativen Einsätzen nehmen unsere Beamten nicht teil, die Maßnahmen laufen in alleiniger Zuständigkeit der Afghanen.

Welchen Ausbildungsstand hat die afghanische Polizei erreicht?

Sie ist wesentlich besser geworden. Anfangs gab es eine relativ hohe Quote von Polizisten, die sich nach der Ausbildung absetzten, wohin auch immer. Die internationale Staatengemeinschaft darf in ihren Bemühungen jedoch nicht nachlassen.

Das US-amerikanische Militär glaubt, Al Qaida sei im Afghanistan-Krieg kaum noch von Bedeutung. Ist die Terrororganisation auf dem Rückzug?

Ich glaube nicht. Aber ihre Strategie hat sich gewandelt. Der Kern von Al Qaida um Osama bin Laden und seinen Stellvertreter Aiman al Sawahiri setzt stärker auf Propaganda, vor allem im Internet. Dennoch ist auch weiter zu befürchten, dass Al Qaida vom afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aus Anschläge plant oder zumindest anregt. Kern-Al Qaida ist es gelungen, eine weltweite Leitideologie weiterzuentwickeln, der sich immer mehr islamistische Gruppierungen anschließen. Kern-Al Qaida beansprucht weiterhin die Führung in der Meinungsbildung im globalen Jihad für sich.

Wäre der Kern auch in der Lage, den Angriff vom 11. September zu wiederholen?

Das halte ich im Moment für unwahrscheinlich. Der Kern von Al Qaida steht unter hohem Verfolgungsdruck, Osama bin Laden und Aiman al Sawahiri können sich nur wenig in ihren Verstecken in der pakistanischen Grenzregion Wasiristan bewegen. Gefährlicher sind die Filialen von Al Qaida in der islamischen Welt. In Nordafrika, im Jemen, in Saudi-Arabien, in Somalia und im Irak sind Ableger von Al Qaida aktiv, die allerdings weitgehend unabhängig voneinander handeln. Die Al-Qaida-Filialen sind auch eine Gefahr für Deutsche in diesen Ländern.

Ist für Sie ein Ende des islamistischen Terrors absehbar?

Nein. Schon die vielen Reisebewegungen zwischen Deutschland und dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet mit dem Ziel Terrorlager zeigen, dass der islamistische Terrorismus einigen Islamisten attraktiv erscheint.

Reichen die Kompetenzen des BKA aus, um in Deutschland selbst der gewaltbereiten Islamistenszene effektiv entgegenzutreten?

Für uns war es natürlich ein Fortschritt, dass 2009 das lange umstrittene BKA-Gesetz in Kraft gesetzt wurde. Und es zeigt sich: so heftig kritisierte Maßnahmen wie die Online-Durchsuchung haben wir bislang gar nicht anwenden müssen. Grund dafür ist unter anderem der große Verfolgungsdruck in Afghanistan und Pakistan, aber auch in Deutschland. Dies hat sich positiv auf unsere Sicherheit ausgewirkt. Auch Ermittlungen zu potenziellen Gefahren nach Paragraf 4 a des BKA-Gesetzes führen wir mit Augenmaß durch. Bei über 100 Gefährdungshinweisen im Bereich des islamistischen Extremismus und Terrorismus mussten wir lediglich in sechs Fällen eine Zuständigkeit gemäß BKA-Gesetz bejahen und entsprechende Maßnahmen einleiten. Die von vielen in diesem Zusammenhang befürchtete Konkurrenzsituation mit den Bundesländern ist nicht eingetreten.

Wo sehen Sie Lücken?

Ich sehe empfindliche Schutzlücken durch die Suspendierung der Vorratsdatenspeicherung. Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im März dieses Jahres ist es derzeit nicht möglich, dass die Verbindungsdaten von Telefon und Internet sechs Monate gespeichert werden. Das erschwert die Ermittlungen erheblich, wenn wir beispielsweise aufklären müssen, wie sich vor einer terroristischen Straftat die Täterstrukturen gebildet haben und wer mit wem kommuniziert hat. Um herauszubekommen, wer sich im Internet hinter einer IP-Adresse verbirgt, benötigen wir unbedingt die dazugehörigen Daten.

In zwei Jahren werden Sie pensioniert. Was wollen Sie bis dahin noch unbedingt erreichen?

Über mein Alter und die Pensionierung denke ich bislang nicht nach. Ich stecke viel zu tief in der Herausforderung, die das Amt als BKA-Präsident täglich bereit hält. Besonders wichtig ist mir, dass wir in der öffentlichen Diskussion um eine effektive Abwehr des Terrors unsere Positionen besser vermitteln. Es muss deutlicher werden, dass Freiheit und Sicherheit keine Gegensätze sind, sondern sich einander bedingen, und dass wir uns unserer Verantwortung für die Bürgerrechte sehr bewusst sind. Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit und umgekehrt. Zudem arbeite ich mit Nachdruck daran, dass wir neuen Herausforderungen, wie zum Beispiel der sich geradezu galoppierend entwickelnden Cyber-Kriminalität, mit geeigneten Mitteln begegnen können.

Das Interview führte Frank Jansen.

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