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Menschenrechte: Russland wegen Verschwinden eines Tschetschenen verurteilt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Moskau wegen des spurlosen Verschwindens eines jungen Tschetschenen nach einem Verhör durch russische Soldaten verurteilt.

Straßburg - Der junge Mann sei seit über sechs Jahren spurlos verschollen, stellten die Straßburger Richter am Donnerstag fest. Für sein Verschwinden sei Russland verantwortlich, das unter anderem gegen die Grundrechte auf Schutz des Lebens und Freiheit verstoßen habe. Geklagt hatte die 68-jährige Mutter des Verschwundenen. Ihr muss die russische Regierung dem Urteil zufolge 35.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Beim Straßburger Gerichtshof sind derzeit rund 200 andere Klagen gegen Russland wegen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien anhängig.

Die Tschetschenin hatte ihren damals 25 Jahre alten Sohn zuletzt Anfang Februar 2000 in einer Fernsehreportage gesehen - als er nach einer Militäroperation gegen tschetschenische Rebellen von dem russischen Oberst Alexander Baranow verhört wurde. Sie hörte, wie der Offizier Soldaten den Befehl gab, den 25-Jährigen «fertigzumachen». Seither gibt es kein Lebenszeichen von ihm.

Mutter reichte Klage in Straßburg ein

Die Frau meldete ihren Sohn unverzüglich als vermisst und suchte ihn in verschiedenen Gefangenenlagern. Im August 2000 teilten ihr die russischen Behörden mit, er sei in keinem Lager untergebracht. Im November des gleichen Lagers stellte ein Militärstaatsanwalt fest, es gebe keinerlei Veranlassung, russische Soldaten für das in der Fersehreportage gefilmte Vorgehen verantwortlich zu machen. Im Juli 2001 teilte die zivile Staatsanwaltschaft von Tschetschenien mit, der Mann sei auf einer Liste von Verschollenen.

Erst nachdem die Mutter im November 2003 Klage beim Straßburger Gerichtshof eingereicht hatte, leitete die russische Justiz Ermittlungen ein. Sie ergaben, dass der Tschetschene Anfang Februar 2000 festgenommen und dem russischen Militär übergeben wurde. Die Ermittlungen wurden unterdessen sechs Mal eingestellt und dann doch wieder aufgenommen.

"Keinerlei plausible" Erklärung für das Verschwinden

Die russischen Behörden hätten «keinerlei plausible» Erklärung für das Verschwinden des jungen Mannes abgegeben, rügten die Straßburger Richter. Sie hätten auch keinerlei Motiv genannt, das die «mörderische Gewalt» ihrer Soldaten rechtfertigen könne. Es müsse davon ausgegangen werden, dass der Tschetschene nach seiner Festnahme ums Leben gekommen sei.

Massive Kritik übte der Gerichtshof für Menschenrechte an der russischen Justiz. Diese sei erst tätig geworden, nachdem die Mutter in Straßburg geklagt habe. Die Frau sei somit jahrelang im Ungewissen über das Schicksal ihres Sohnes geblieben. Dies sei als «menschenunwürdige Behandlung» zu werten. Die Ermittlungen wiesen zudem zahlreiche Mängel auf. So seien mehrere Soldaten, die an der fraglichen Operation beteiligt waren, nie verhört worden.

Reportage sei "subjektiv"

Bei der Anhörung vor dem Menschrechtsgerichtshof im vergangenen Dezember hatte der russische Militärstaatsanwalt Alexander Dewjatko die Anschuldigungen zurückgewiesen. Die fragliche Reportage, die vom privaten russischen Fernsehsender NTV und dem US-Senders CNN gedreht wurde, sei «subjektiv» gewesen, sagte er. Die Äußerung des Offiziers während der «Konversation» mit dem Tschetschenen sei kein Hinrichtungsbefehl gewesen. Vielmehr habe der Offizier den Festgenommenen psychologisch beeinflussen und die «Atmosphäre entspannen» wollen. Über das Schicksal des jungen Mannes werde noch ermittelt. Möglicherweise sei er geflüchtet, um sich einer Strafverfolgung wegen «illegaler bewaffneter Aktivitäten» zu entziehen.

Gegen das Urteil einer kleinen Kammer des Straßburger Gerichts können beide Seiten innerhalb von drei Monaten Rechtsmittel einlegen. Dann kann der Fall an die Große Kammer verwiesen werden. (tso/AFP)

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