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Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister Berlins.

© Mike Wolff

Michael Müller im Interview: "Ich muss mit meiner Rolle wohl etwas anders umgehen"

Seit vier Wochen regiert Michael Müller mit einem rot-rot-grünen Senat in Berlin. Der SPD-Politiker über den holprigen Start und wie es künftig besser werden soll. Lesen Sie hier das gesamte Interview.

Herr Müller, sind Sie mit sich zufrieden als Regierender Bürgermeister?

Ich glaube schon, dass ich auf die richtigen Themen gesetzt habe. Aber bei der Umsetzung in der Regierung kann man noch besser werden.

Wo haben Sie bei sich Verbesserungsbedarf?

Dem Regierenden Bürgermeister kommt für den Zusammenhalt einer Koalition eine besondere Rolle zu. Damit muss ich wohl künftig etwas anders umgehen, als ich es bisher bei manchen Themen gemacht habe.

Müssen Sie härter werden?

Das kann auch mal härteres Durchgreifen sein. Es kann aber auch bedeuten, sich zuweilen zurückzunehmen, Dinge im Hintergrund zu moderieren und nicht sofort öffentlich sichtbar in Konflikte hineinzugehen.

Lassen Sie deshalb jetzt den Konflikt um Staatssekretär Andrej Holm und dessen Stasi-Vergangenheit einfach laufen?

Es steht nun mal jedem Koalitionspartner zu, sich das eigene Personal auszusuchen. Ich habe auf Risiken aufmerksam gemacht und gesagt, dass der Fall Holm den Start der rot-rot-grünen Koalition in Berlin belastet. Aber die Linke braucht offenbar Zeit für weitere interne Diskussionen. Das haben SPD und Grüne so akzeptiert, wir warten nun auf das Ergebnis der Überprüfung durch die Humboldt-Universität.

Warum nehmen Sie als Regierender Bürgermeister nicht Ihre Richtlinienkompetenz wahr?

Dieses Mittel sollte ein Regierungschef auf herausragende Konfliktfälle beschränken. So etwas kann man in einer Legislaturperiode vielleicht zwei, drei Mal machen. Gleich zu Beginn der Regierungsarbeit etwas gegen den Willen eines Koalitionspartners durchzusetzen, hinterlässt sicher auch Spuren.

Ist Herr Holm als Staatssekretär noch haltbar, wenn die Humboldt-Universität wegen seiner falschen Angaben nachträglich personalrechtliche Konsequenzen gegen ihn zieht?

Nein. Das sieht auch die Linke so.

Auf der Skala von 1, ganz schlecht, bis 10, ganz toll: Wo sehen Sie Rot-Rot-Grün nach den ersten Wochen?

Jetzt soll ich schon Noten verteilen, wir sind ja noch gar nicht richtig in die Arbeit reingekommen. Aber gut, ich sehe uns derzeit auf dem Weg in das obere Drittel der Skala.

Was läuft, mit Blick auf Ihre Partner, noch nicht professionell genug?

Man muss sehen, dass die Linke fünf Jahre und die Grünen sogar 25 Jahre in der Opposition gewesen sind. Beide Parteien müssen in viele Themen erst fachlich wieder hineinfinden, sich Kompetenzen aneignen. Das ist kein Vorwurf, das würde uns genauso gehen. Aber wir sind im dauernden Austausch, persönlich, am Telefon, per SMS. Die Abstimmung funktioniert gut.

Was hat Sie an Ihren Partnern bis jetzt am meisten überrascht?

Rot-Rot hat in den zehn Jahren einiges auf den Weg gebracht. Dass jetzt vieles davon infrage gestellt wird, das überrascht mich.

Die Linke blockiert?

Nein. Aber vor allem in der Finanz- und Stadtentwicklungspolitik hätten wir in den Koalitionsverhandlungen meiner Meinung nach mehr verabreden können.

Raten Sie den Koalitionspartnern, sich mehr an Ihrem politischem Instinkt zu orientieren?

Das ist immer gut (lacht).

Beispielsweise, wenn es um die Videoüberwachung öffentlicher Plätze geht? Da haben Sie sich klar positioniert, Linke und Grüne lehnen das genauso deutlich ab.

Schon im Sommer hatte ich gesagt, dass ich mir eine Videoüberwachung an ausgewählten Orten sehr gut vorstellen kann. Das ist damals auch wegen Bedenken in der SPD-Fraktion nicht zustande gekommen. Jetzt habe ich wegen einer neuen Sicherheitslage erneut betont, dass Videoüberwachung helfen kann, Täter schneller zu ermitteln und Nachfolgetaten zu verhindern.

Wird sich denn die Koalition in Sachen Videoüberwachung bei der Senatsklausur am Montag auf mehr einigen können als auf einen Prüfauftrag?

Ich sehe Verhandlungsspielraum. Das könnte ein Projekt sein, begrenzt auf wenige Orte. Da sollten wir auf den Rat der Fachleute in der Polizei hören. Viel wichtiger ist aber ein Gesamtkonzept für die innere Sicherheit in Berlin. Dazu gehören präventive und repressive Maßnahmen. Sicherheit bedeutet zum Beispiel auch, sozial- und bildungspolitische Aspekte zu berücksichtigen.

Der Terroranschlag am Breitscheidplatz hat die Sicherheitslage sehr verändert, im Koalitionsvertrag stehen aber Dinge, die dazu nicht passen. Das gilt auch für die Abschiebungspolitik. Rot-Rot-Grün will möglichst wenig abschieben. Gibt es auch hier Korrekturbedarf?

Nein. Wir sagen ja nicht, dass es keine Abschiebungen mehr geben soll. Im Koalitionsvertrag steht nur, dass damit sehr sorgsam umgegangen werden muss. Man muss schon genau hinschauen: In welche Länder kann man überhaupt abschieben? Wie ist dort die soziale und Menschenrechtslage? Etwas martialisch zu fordern, was gar nicht geht, kennt man aus Bayern, aber nicht aus Berlin. Abschiebungen sind für uns nicht das vorrangige Instrument, um die Flüchtlingssituation zu bewältigen.

Der Bundesinnenminister will Massenabschiebezentren in der Nähe von Flughäfen einrichten. Ist das mit Ihnen und der SPD zu machen?

Menschen zum Zweck der Abschiebung an einem Flughafen zusammenzuführen, ist aber doch nicht die Lösung des Problems. Wir können keine Menschen in Länder abschieben, in denen sie nicht unter friedlichen und sozial verträglichen Bedingungen aufgenommen werden. So sehen es unsere Verfassung und die Menschenrechte vor. Darum kümmert sich Herr de Maizière aber nicht die Bohne.

Die Migrationsbeauftragte des Bundes, Aydan Özuguz, nennt Abschiebungen beispielsweise nach Afghanistan zynisch. Wie sehen Sie das?

Dieser Meinung schließe ich mich an.

Ist Deutschland bei Abschiebungen zu rigoros?

Nein. Wir können nicht jedem helfen, der zu uns kommt. An erster Stelle stehen für mich jene, die aus Kriegsgebieten kommen und deren Leben unmittelbar in Gefahr ist. Den vielen, die etwa wirtschaftlicher Not entfliehen, können wir nicht dauerhaft beistehen. Auch wenn es oft schwerfällt.

Würde Berlin im Bundesrat einer Ausweitung der sicheren Herkunftsländer auf Algerien, Tunesien und Marokko zustimmen?

Da schließe ich mich dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann an, der gesagt hat, er habe kein Außenministerium. Die Bundesländer müssen sich auf das Votum der Profis im Auswärtigen Amt und im Innenministerium verlassen können, ob eine sichere Rückführung in solche Länder möglich ist. Wenn nicht, machen Abschiebungen keinen Sinn.

Sie sind bisher der einzige Länderchef, der gesagt hat, dass wir möglicherweise noch mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen. An welche Größenordnung denken Sie?

Ich habe gesagt: Wir können als eine der Metropolen des reichen Nordeuropa, wie andere auch, weiter Flüchtlinge aufnehmen und ihnen Schutz bieten, wenn es nötig ist. Ich habe mich nie an Diskussionen über Quoten und Obergrenzen beteiligt. Das hilft nicht weiter. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass internationale Krisen in absehbarer Zeit eher zu- als abnehmen werden. Deshalb ist es unsere humanitäre Pflicht, Menschen in akuter Not, die zu uns flüchten, zu helfen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie das infrage gestellt werden kann.

Bundesinnenminister de Maizière möchte gern die Landesämter für Verfassungsschutz zugunsten eines starken Bundesamts abschaffen. Das käme Grünen und Linken in Berlin doch entgegen, oder?

Das käme Forderungen der Koalitionspartner entgegen, die aber nicht in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurden, weil die SPD dagegen war. Alle Fachleute sagen, dass es wichtig ist, auch in den Ländern eigene Erkenntnisse über Extremisten und Terroristen zu sammeln. Wir brauchen sicher keine eigene Spionageabwehr, aber konkrete Bedrohungslagen müssen auch regional ermittelt werden.

Wie sieht denn das Sicherheitspaket aus, das der Senat am Montag beschließen will?

Nur so viel: Es geht auch um die Stärkung und Qualifizierung des Sicherheitspersonals. Die Videoüberwachung wird eine Rolle spielen, wir werden die Sozial- und Jugendarbeit stärken, es geht auch um den Dialog mit muslimischen Gemeinden oder die Ausbildung von Imamen.

Können Sie verstehen, wenn sich Berliner in ihrer Stadt unsicher fühlen – etwa im Görlitzer Park oder am Alexanderplatz?

Aber ja. Trotzdem hat es sich nach dem Anschlag am Breitscheidplatz wieder gezeigt, dass sich die Berliner nicht so schnell aus der Bahn werfen lassen – sie haben sehr souverän reagiert. Aber auch jenseits solcher schrecklichen Terroranschläge gilt: In jeder Millionenmetropole gibt es Orte, an denen man wachsam sein muss. Das ist auch in New York, London oder Hamburg so. Trotzdem kann man sich in Berlin sicher bewegen, ohne Angst um Leib und Leben haben zu müssen.

Ist Rot-Rot-Grün für Sie immer noch ein Modell für den Bund?

Wir wollten, jedenfalls aus meiner Sicht, nie ein Modell sein für eine mögliche Bundesregierung. Aber ich gehe davon aus, dass die Koalition in Berlin in den nächsten Monaten zeigen wird, dass man in dieser Konstellation gut und verlässlich zusammenarbeiten kann. Wer daraus Machtoptionen für den Bund ableiten will – bitte schön!

Rot-Rot-Grün in Berlin wird beobachtet, das ist Ihnen schon klar?

Natürlich. Das ist auch allen drei Regierungspartnern bewusst, deshalb hätte ich mir den Start auch anders vorstellen können. Der Fall Holm beispielsweise wird selbstverständlich von interessierter Seite genutzt, um darauf hinzuweisen, wie problematisch Rot-Rot-Grün angeblich ist.

Wie werden SPD, Linke und Grüne im bevorstehenden Bundestagswahlkampf agieren? Üben Sie den Schulterschluss im Lagerwahlkampf?

Ich glaube nicht, dass es zwischen den drei Parteien in Berlin harte Auseinandersetzungen geben wird. Die Schnittmengen sind groß. Das gilt auch für bundespolitisch wichtige Themen, etwa die soziale Gerechtigkeit.

Aber viele Berliner haben den Eindruck, dass Rot-Rot-Grün nicht für die ganze Stadt Politik macht, sondern vor allem die jeweilige Klientel der drei Parteien bedient. Was sagen Sie diesen Menschen?

Wir wollen den sozialen Ausgleich für alle Berliner und zwar in jedem Stadtbezirk. Dafür steht die SPD, dafür müssen auch die beiden Koalitionspartner stehen. Klientelpolitik wäre fatal. Berlin ist viel zu vielschichtig, als dass man es sich leisten könnte, nur ausgesuchte Gruppen zu bedienen. Wir müssen möglichst viele Menschen ansprechen. Dieser Anspruch ist im Koalitionsvertrag formuliert und es wird unsere Aufgabe als größter Regierungspartner sein, dies in der täglichen Arbeit deutlich und glaubwürdig zu vertreten.

Wird der Koalitionsvertrag demnach missverstanden, etwa von überregionalen Medien wie dem „Spiegel“ oder der „Zeit“, die die Vereinbarung sehr kritisch sehen?

Es ist nun mal bundesweit die erste Regierungskonstellation dieser Art. Da kann es schon sein, dass es hier und da Vermutungen gibt, die Grünen wollten nur Radwege und die Linken mehr Geld für Soziales. Aber diese Koalition hat alle Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt im Blick. Wir spielen nicht einzelne Bevölkerungsgruppen gegen die anderen aus. Alles andere ist eine Unterstellung.

Und Sie wachen darüber, dass das so eingehalten wird?

Richtig. Die Umsetzung der Richtlinien der Regierungspolitik ist Aufgabe des Regierenden Bürgermeisters. Und in der Senatskanzlei wird, das steht so im Koalitionsvertrag, ein neues Referat eingerichtet, das die Zusammenarbeit der Koalitionspartner koordiniert.

Was ist für Sie besonders wichtig, womit startet der Senat ins neue Jahr?

Die Stadt braucht dringend mehr öffentliche Investitionen. Besonders wichtig ist mir auch die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze und die Stärkung des Wissenschaftsbereichs. Und natürlich das Thema Wohnen und Mieten, da geht es um ein Grundrecht. Die Menschen brauchen bezahlbaren Wohnraum. Und alle Partner haben unterschrieben, dass 55000 Wohnungen gebaut werden.

Können Sie den Berlinern versprechen, dass die Mieten nicht weiter steigen?

Nein, das wäre unredlich. Ich kann nur versprechen, dass wir mit unserer Wohnungspolitik alles tun, um den Mietanstieg zu dämpfen.

Es ziehen immer mehr Berliner ins brandenburgische Umland, um den hohen Mieten und Grundstückspreisen zu entfliehen. Finden Sie das gut?

Zum einen ist das für große Städte ein normaler Trend. Die gleiche Situation hatten wir schon Anfang der neunziger Jahre. Nicht wegen hoher Mieten, sondern weil manche Familien ein Häuschen im Grünen haben wollen, was innerhalb der Stadt kaum möglich ist. Ich persönlich lebe mit meiner Familie ganz bewusst in der Innenstadt, in Tempelhof am S-Bahn-Ring, da fühlen wir uns sehr wohl. Und um möglichst vielen weiterhin bezahlbares Wohnen in der Stadt zu ermöglichen, machen wir ja eine neue Wohnungs- und Mietenpolitik.

Berlin baut selbst im Umland, nämlich einen Flughafen in Schönefeld. Wollen Sie nicht als Aufsichtsratschef der Flughafengesellschaft der Erste sein, der den Leuten die Wahrheit sagt: dass es mit der Eröffnung 2017 nichts wird?

Ich sage seit zwei Jahren die Wahrheit und habe nichts zu korrigieren: Es kann Ende 2017 werden, aber auch Anfang 2018. Ich weiß natürlich, dass der Zeitplan immer kritischer wird, und habe gelesen, dass Geschäftsführer Mühlenfeld gesagt hat, der Flughafen könne im März 2018 in Betrieb genommen werden.

Und das hat Sie tatsächlich überrascht?

Bisher war im Aufsichtsrat von diesem konkreten Datum nicht die Rede. Es muss in der nächsten Aufsichtsratssitzung geklärt werden, ob das der Vorstand tatsächlich so sieht.

Noch einmal: Vorstandschef Mühlenfeld sagt Ihnen bisher immer noch, dass eine Eröffnung 2017 möglich ist?

Ja. Alle Gesellschafter wissen, dass es von Tag zu Tag enger und schwieriger wird, Ende 2017 zu erreichen. Doch wenn alle an einem Strang ziehen, einschließlich der Firmen und Genehmigungsbehörden, ist es nach allem, was bisher an Informationen vorhanden ist, noch möglich.

Wann wird Berlin seine offenen Aufsichtsratssitze endlich neu besetzen?

Es gibt das Angebot von Grünen und Linken, mit Senatoren in den Aufsichtsrat zu gehen. Das werden wir noch im Januar klären.

Herr Müller, Sie sind Regierender Bürgermeister, selbst ernannter Moderator der rot-rot-grünen Koalition, Sie sind Aufsichtsratsvorsitzender am Flughafen und auch noch SPD-Parteivorsitzender. Ist das nicht ein bisschen viel?

Ich bin erschüttert: Sie haben den Wissenschaftssenator vergessen. Aber ernsthaft: Da ergeben sich viele Rollen aus den jeweils anderen. Mir ist nicht langweilig, ich arbeite viel, das können Sie mir glauben. Aber alles ist gut zu bewältigen.

War es aus heutiger Sicht klug, auch noch den SPD-Landesvorsitz zu übernehmen?

Klar. Es war richtig, gerade in den schwierigen Koalitionsverhandlungen als Parteichef agieren zu können. Und ich hänge an meiner Partei.

Hängt die Partei auch an Ihnen?

Wie in allen Parteien hat man als Vorsitzender Kritiker und Unterstützer. Von Letzteren habe ich zum Glück mehr. Ich bin ja auch mit einem guten Ergebnis wiedergewählt worden.

Fühlen Sie sich auch von Ihrem SPD-Fraktionschef gut unterstützt?

Die Abstimmung zwischen Raed Saleh und mir ist sehr eng und vertrauensvoll. Es wird auch im Parlament darauf ankommen, dass die SPD die stabilisierende Rolle in der Koalition übernimmt.

Herr Müller, ist die Berliner SPD in der Bundespartei gut vertreten?

Die Berliner SPD ist und bleibt ein kleiner Landesverband. Aber wir sind mit dem Metropolenbeauftragten Jan Stöß und mir als Ministerpräsident gut dabei. Und unsere Bundestagsabgeordnete Eva Högl ist für Partei und Fraktion ein wichtiger Ansprechpartner. Wir werden nicht schlecht behandelt.

Sind die Gründe für das schlechte SPD-Wahlergebnis ausreichend aufgearbeitet?

Die SPD hat sehr schnell und schonungslos eine selbstkritische Debatte geführt. Die anderen Parteien haben das noch vor sich. Denn 14,2 Prozent für die AfD muss allen zu denken geben. Für mich heißt das: Wir werden uns ständig selbst hinterfragen. Da geht es um unser Handwerk, um unseren Auftritt, auch meinen eigenen Auftritt. Das muss man reflektieren. Damit wir diejenigen, die uns einen Denkzettel verpassen wollten, wieder für uns gewinnen.

Mit Sigmar Gabriel als SPD-Kanzlerkandidat? Was macht ihn besser als Olaf Scholz oder Martin Schulz?

Die drei können alle tolle Sachen. Aber Sigmar Gabriel ist unser Parteivorsitzender.

Und deshalb ist er der Tollste?

Deshalb hat er den ersten Zugriff auf die Kandidatur. Er hat einen Führungsanspruch, ihn zeichnet Gestaltungswille aus, ein kraftvolles Auftreten, rhetorisches Talent. Warum also sollte er es nicht werden?

Weil er nicht beliebt ist.

Natürlich schaut jeder Politiker, wie beliebt er ist – das gehört zum Geschäft. Aber Personalpolitik nach Umfragewerten halte ich für fatal. Um Kanzler zu sein, braucht es mehr – vor allem Empathie für die Themen, die den Menschen wichtig sind. Und die hat Sigmar Gabriel.

Was ist das Wahlziel der Berliner SPD für den Bundestagswahlkampf?

Besser zu sein als letztes Mal. Da lagen wir bei 24,6 Prozent.

Wie wird sich der Wahlkampf nach den Erfolgen der AfD in Deutschland und auch von Donald Trump in Amerika verändern? Müssen Sie stärker in die Kieze gehen oder in die sozialen Netzwerke?

Bei den sozialen Medien sind wir erst am Anfang einer Debatte: Welche Rolle haben soziale Netzwerke, was richten sie an in der politischen Debatte? Das wird Medien und Politik gleichermaßen beschäftigen. Aber wichtiger als die Frage, wie wir die Leute erreichen, muss die Frage sein, ob unsere Politik für sie wirklich wirkt: Das können wir nur beweisen durch Investitionen, soziale Politik, eine funktionierende Stadt.

Die Situation in den Bürgerämtern…

… war wirklich zum Heulen. Ich habe in den letzten zwei Jahren mehrfach mit den Bezirken zusammengesessen, wir haben Leute eingestellt – und jetzt spüren wir Verbesserungen. Das dauerte aber zu lange. Wir haben das richtige Thema erkannt, konnten aber mehr als ein Jahr nicht nachweisen, dass wir es besser können. Das nervt die Leute.

Greifen Sie zu wenig durch?

Ich habe ja bei der Krise um das LaGeSo durchgegriffen, auch wenn das auf meine Kosten ging. Wir haben die Aufgaben temporär im Roten Rathaus angesiedelt, um sie von hier aus zu bewältigen. Ich behalte mir auch in Zukunft vor, in besonders heiklen Situationen einzugreifen und auch durchzugreifen.

Was will die Koalition ganz konkret schnell angehen?

Eine intensive Sicherheitspolitik darf nicht erst in 18 Monaten ins Werk gesetzt werden, sondern muss jetzt beginnen. Gleiches gilt für den Freizug aller Turnhallen, der bereits umgesetzt wird. Oder die Schulsanierung: Wir wissen, was wir wollen; die Mittel sind da – wir müssen starten. Dafür wird es eine landeseigene Gesellschaft geben, die flexibler und schneller Aufträge vergeben kann, als es nebeneinander arbeitende Behörden tun. Das gilt besonders für große Maßnahmen, da will ich keine Zeit mehr vertrödeln. Kleine Maßnahmen können weiter die Bezirke verantworten.

Das heißt: Wenn etwas schneller gehen soll in Berlin, braucht man eine Parallelstruktur, die an Bezirksämtern und bisherigen Behörden vorbeigeht?

Nein. Hier gibt es eine klar definierte Aufgabe, die stadtweit dieselbe ist. Ich will nicht erst austesten, welche Varianten es verwaltungsintern gibt, um schneller zu werden. Weil das im Zweifel wieder zu lange dauert. In anderen Bereichen hoffe ich, dass sich viele Blockaden in den Bezirken auflösen werden – weil sie jetzt mehr Geld und Personal bekommen.

Hat der Senat genügend Kompetenzen, um seine Politik in den Bezirken durchzusetzen?

Nee. Das ist bei den Koalitionsverhandlungen offen geblieben. In den Sondierungsgesprächen hatten wir uns neue Strukturen vorgenommen – das haben wir nicht geschafft. Da müssen wir gegebenenfalls nachjustieren. Die Zusammenarbeit in den nächsten Monaten wird zeigen, ob das nötig ist.

Herr Müller, haben Sie für das 100-Tage-Programm des Senats auch eine Initiative als Wissenschaftssenator zu bieten?

Ich will zum Beispiel das Thema Digitalisierung noch stärker vorantreiben. Wir schaffen beinahe wöchentlich neue IT-Professuren. Das Robert-Koch-Forum kann zum Haus der Wissenschaft werden. Zudem wollen wir das Bundesinstitut für Internet nach Berlin holen.

Und dann legt sich Michael Müller ein Twitter-Profil zu?

Ich mache das ganz bewusst nicht. Wenn man sich für einen solchen Kommunikationsweg entscheidet, muss man ihn gut, sauber und seriös betreiben. Das darf nicht nur eine Wahlkampfnummer sein. Ich sehe nicht, dass ich dazu den Zugang, die Zeit und die Kraft habe.

Andere europäische Bürgermeister machen das auch.

Ich will mich nicht immer stärker unter Zeitdruck setzen lassen. Ich möchte politisch so arbeiten, dass ich mal eine Rücksprache halte oder etwas nachlese, um eine Position zu formulieren. Twitter lebt davon, dass ich innerhalb von Sekunden reagiere. Ich halte vieles, was dort passiert, für unseriös – und möchte mich daran nicht beteiligen. Wer konzeptionell in 140 Zeichen denkt, der wird den Herausforderungen von Politik und den Ansprüchen der Menschen oft nicht gerecht.

Interview: Stephan-Andreas Casdorff, Lorenz Maroldt, Robert Ide, Ulrich Zawatka-Gerlach. Die Fotos machte Mike Wolff.

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