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Politik: Michail Gorbatschow im Interview: "Zur Weltmacht verdammt"

Zehn Jahre deutsche Einheit: Sind Sie zufrieden mit der Lage in Europa und der Welt?Die Erwartungen haben sich nicht erfüllt.

Zehn Jahre deutsche Einheit: Sind Sie zufrieden mit der Lage in Europa und der Welt?

Die Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Der europäische Prozess wurde vernachlässigt. Dabei war das doch das Wichtigste an der deutschen Einheit: dass sie organisch mit der europäischen Einigung verbunden war. Doch es gab ungute Experimente nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Welche?

Russland ist in Europas Schatten geblieben. Der Zerfall der Union war ein unnormaler Vorgang, ausgelöst durch den Machtkampf: Die Einen wollten zurück zur alten Ordnung. Die Anderen drängten zur Macht, um ihr eigenes Programm zu verwirklichen. Das destabilisierte die Situation, nach zwei Wochen verkündeten alle ihre Unabhängigkeit. In Europa verstand man das so, dass es keine Sowjetunion mehr gäbe, dass Russland geschwächt sei und man den Kuchen aufteilen könne. Das war ein Fehler. Was mich beunruhigt, ist die Sicherheitsfrage. Die Nato versucht, allen in Europa vorzuschreiben, was sie zu tun haben - nicht nur im Westen.

Gab es auch positive Entwicklungen?

Ja. Trotz allem können wir reisen, uns begegnen. Es gibt mehr freien Handel. Die Europäische Gemeinschaft sammelt neue Kräfte. Wenn es nicht glückt, alle Staaten in der EU zu vereinen, sollte man denen draußen eine enge Partnerschaft anbieten.

Was müsste passieren, damit Russland nicht als Verlierer des Wandels dasteht?

Vor allem muss Russland selbst aus seiner Krise herausfinden und zur Kooperation bereit sein. Intensivere Handelskontakte würden Russland helfen. Russland hat großes politisches Potenzial. Es sollte sich an der europäischen Außenpolitik beteiligen und von der EU konsultiert werden. Alles hängt davon ab, ob sich Russland stabilisieren kann. Ich glaube, das wird Putin gelingen.

Lech Walesa sagt, der Westen habe den Sieg über den Kommunismus verspielt.

Der Westen macht strategische Fehler. Er glaubte, er habe den Kommunismus besiegt und die neoliberale Theorie habe triumphiert. Jetzt zeigt sich, das stimmt nicht. Keine fundamentalistische Strömung ist in der Lage, die Probleme zu lösen oder Wahlen zu gewinnen - schon gar nicht der Kommunismus. Wir müssen weiter den Weg zu Demokratie, Partnerschaft und Ausgleich der Interessen gehen. Es darf keine Rückkehr zu Hegemonialansprüchen geben.

Hat Russland den Willen zu Reformen?

Russland ist mitschuldig an seiner Misere, hat sich mit Dummheiten beschäftigt. Statt Schritt für Schritt die Probleme zu lösen, herrschte törichte Entschlossenheit: Man versuchte, sofort das Harvard-Modell durchzusetzen. Das Land wurde für die Konkurrenz geöffnet, als der russische Markt in den meisten Produktionsbereichen noch nicht konkurrenzfähig war. Das Ergebnis war die Zerstörung der Unternehmen. Man hätte dem Volk erst beibringen müssen, wie Markwirtschaft funktioniert, hätte Märkte und Infrastruktur entwickeln müssen.

Die Informationspolitik bei der Kursk-Katastrophe: War das Gorbatschows Glasnost?

Da wurde Glasnost ignoriert. Das war ein Krisenfall der Informationspolitik und der Pressefreiheit, ein Rückfall in die Vergangenheit. Putin hat das ein bisschen zu spät verstanden, wurde sehr nervös, hat fast den Kopf verloren. Dann aber hat er die Konsequenzen gezogen. Denn die Gesellschaft bestand darauf, informiert zu werden.

Erst die Kursk, dann der Brand des Fernsehturms: Bricht jetzt nach und nach alles zusammen? Hat Russland überhaupt noch die Ressourcen für eine Weltmachtposition?

Russland ist dazu verdammt, eine Weltmacht zu sein. Es wird die Krise überwinden müssen. Selbstverständlich gibt es viel Verfall. Auch den zwangsläufigen Niedergang in der Rüstungsindustrie: 25 Prozent des sowjetischen Staatshaushalts gingen in die Rüstung. In der übrigen Welt gab es weniger Panzer als in der UdSSR. Chemische und Atomwaffen werden nicht mehr hergestellt. Es gibt Rüstungsbetriebe, deren Konversion unmöglich ist. Das ist normal bei der Abkehr von einer militarisierten Wirtschaftsordung.

Was sind alternative Potenziale Russlands?

Russland wird den Weg in die Marktwirtschaft weitergehen. So ist die Stimmung im Lande. Aber bestimmte Bereiche sollten in der Hand des Staates bleiben und einige Monopole weiter bestehen. Über die Weltmachposition braucht man sich im Moment keine Gedanken machen. Es geht um Arbeitsplätze, konkurrenzfähige Produkte, freien Handelsverkehr mit Europa. Natürlich wird Russland weiter eine Armee haben, eine viel kleinere allerdings als früher, modern und professionell, eine, die der Größe Russlands angemessen ist. Ein stabiles, demokratisches Russland wird ein stabilisierender Faktor für Europa und die Welt sein.

Was muss Putin tun - drei Prioritäten?

Jelzin hat ein rechtstaaatliches Chaos geschaffen. Gesetze wurden nicht mehr beachtet, selbst die Verfassung. Das hat Korruption hervorgebracht. Rechtsstaatlichkeit hat selbst für arme und hungernde Menschen erste Priorität. In der Wirtschaft muss Putin die Ist-Situation analysieren und darf nicht nach schematischen Programmen vorgehen. Er will liberale Reformen, aber mit einer starken Rolle des Staates. Das wird ein sozialdemokratischer Weg sein. Eine Reihe neuer Gesetze ist auf dem Weg: zum Schutz des Eigentums, zu Unternehmen, zur Sicherheit für Investitionen aus dem Ausland. Das technische Potenzial Russlands ist sehr groß. Dem Westen muss man helfen, seine Angst vor Russland zu überwinden - und Russland, Partner im Westen zu finden. Das tue ich, besonders in Deutschland. Die Lage bessert sich schon, unter Putin ist das Wirtschaftswachstum gestiegen und die Reallöhne auch. Das ist wichtig, denn die Menschen müssen noch viel Geduld haben.

War Helmut Kohls Russland-Politik richtig?

Die Situation wäre viel besser, wenn die Sowjetunion und Deutschland wie Partner gehandelt hätten. Das kann man von der russischen Regierung nicht sagen. Deshalb ist es schwer zu sagen, was Kohls Anteil war. Jelzin hat viel kaputt gemacht. Er glaubte, der Markt werde alles regeln. Das war Abenteurertum. Deutschland hat in der Ära Jelzin versucht, die Kontakte auf einem gewissen Niveau zu halten. Aber es entwickelten sich keine fruchtbaren Beziehungen. Putin und Schröder arbeiten jetzt daran.

Helmut Kohl wird in Deutschland scharf kritisiert wegen der Parteifinanzierung. Wiegt das schwerer als seine historische Rolle?

Wenn Helmut Kohl moralische Prinzipien verletzt, wenn er Geld gestohlen und privat verwendet hätte, fiele es mir schwer, ihn zu verteidigen. Wenn er es für seine Partei getan hat, habe ich damit kein Problem.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Weinen Sie dem Kommunismus eine Träne nach?

Es gibt für mich keinen Grund, dem Kommunismus nachzuweinen. Ich bin glücklich, dass ich die Perestrojka durchgesetzt habe: um Demokratie und Freiheit zu schaffen. Dass wir uns vom Kommandosystem, vom Totalitarismus, vom kommunistischen Modell der Abschottung befreit haben und von der Diktatur zur Demokratie kamen. Gorbatschow hat seine große Chance genutzt. Nicht nur für sein Volk, sondern für Millionen in Ostmitteleuropa. Es ist nur schade, dass so wenige die Chance, in Freiheit zu leben, nutzen. Sie werden es noch lernen.

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