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Militäraktion in Gaza: "Dieser Krieg ist Teil des israelischen Wahlkampfes"

Israel setzt seine Militäraktion im Gazastreifen fort, die Gewalt in Nahost eskaliert. Die in Jerusalem ansässige Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten sprach mit dem Tagesspiegel über den drohenden Krieg in der Region, israelischen Wahlkampf und die Rolle der USA.

Frau Baumgarten, Israel hat am Mittwoch mit massiven Luftangriffen eine Offensive im Gazastreifen gestartet. Droht ein neuer Krieg in der Region?

Ein ungleicher Krieg zwischen dem Gazastreifen und Israel ist schon in Gange. Dann haben wir in der Region Syrien, wo ein blutiger Bürgerkrieg tobt und es schon Probleme an der syrisch-israelischen Grenze gab. Wir wissen nicht, wie sich dieser Konflikt, der inzwischen in den Libanon übergeschwappt ist, weiter auswirken wird. Ich würde aber zum jetzigen Zeitpunkt sagen, dass es ein lokal begrenzter Angriff Israels auf den Gazastreifen bleiben wird, kein regionaler Krieg. Auch deuten alle Signale darauf dahin, dass sich Netanjahu und seine Regierung davor hüten werden, eine Bodenoffensive zu starten. Mit den vielen Opfern, den damit verbundenen Risiken, würde dies auch sehr viel internationale Kritik hervorrufen. Ganz ausschließen kann man diese Szenarien aber nicht.

War denn die Eskalation unvermeidlich?

Sie war im Gegenteil sehr vermeidlich. Die palästinensische Seite hatte klar signalisiert, dass sie zu einem Waffenstillstand bereit ist. Die israelische Reaktion darauf war die sogenannte gezielte Tötung – im normalen Sprachgebrauch nennt man das Mord – des militärischen Führers der Hamas. Wenn man eine solche „gezielte Tötung“ vornimmt, dann weiß man, dass diese notwendigerweise eine Eskalation hervorruft. Diese Eskalation war nicht nur nicht notwendig, sie war vermeidbar. Das heißt, wenn Israel auf das Waffenstillstandsangebot reagiert hätte, hätte man all das, was seit Mittwoch passiert ist, vermeiden können.

Die Armee rechtfertigt den Angriff auch mit den terroristischen Aktivitäten von Ahmed Dschabari. Wie empfindlich trifft diese Tötung die Hamasführung?

Das ist ein Riesenschlag für die Hamas. Schließlich war Dschabari der Führer des militärischen Flügels. Alle Probleme aber, um dies so neutral zu formulieren, zwischen Israel und Gaza und der dortigen von der Hamas angeführten Regierung kann man letztlich nur politisch lösen. Das Problem ist nun, dass Israel weder in Richtung Gazastreifen noch in Richtung der palästinensischen Autorität in Ramallah - der man alles vorwerfen kann, nur nicht Verstrickungen in terroristische Aktivitäten -  etwas anderes als Gewalt anzubieten hat. Der Ball ist auf der israelischen Seite. Sie muss politisch ins Gespräch kommen, die seit 1967 bestehende Besatzung endlich beenden, ebenso wie die Belagerung des Gazastreifens.

Ägypten ist derzeit neben Jordanien das einzige Land der Region, das einen Friedensvertrag mit Israel hat. Welchen Einfluss hat die Offensive auf die Beziehung der beiden Länder?

Einen sehr negativen Einfluss natürlich. All dies wirft die Frage auf, wie sich Israel die zukünftige Entwicklung in der Region vorstellt. Wir haben inzwischen in mehreren Ländern, nicht nur in Ägypten, die Muslimbruderschaft an der Regierung. Diese hat klar signalisiert, dass sie zu einer moderaten Politik und zu guten Beziehungen zu Israel bereit ist. Der Angriff Israels auf den Gazastreifen brüskiert den ägyptischen Staatspräsidenten Mohammed Mursi, der die Vermittlung zwischen Gaza und Israel versucht hat, ganz direkt. Die beiden Staaten haben ihre jeweiligen Botschafter abgezogen. Nicht zuletzt diese Eskalation hätte man vermeiden müssen. Es gibt keine rationale politische Begründung dafür.

Warum dann diese Politik?

Wir sind mitten im israelischen Wahlkampf. Es ist leider so, dass dieser Krieg, der sich entwickelt, offenbar Teil dieses Wahlkampfes ist. All dies ist sehr, sehr zynisch.

"Die Hamas könnte Raketen besitzen, die Tel Aviv erreichen"

Welchen Rückhalt hat der Angriff in der israelischen Bevölkerung?

In der Mehrheit der Gesellschaft wird es starke Zustimmung geben. Kritik kommt vor allem von linken und linksliberalen Leuten, die argumentieren, dass sich diese Situation solange nicht ändern wird, bis Israel einen Friedensvertrag mit den Palästinensern geschlossen hat. Doch das ist leider nur eine winzige Minderheit.

Wie hoch ist die Gefahr, die von der Hamas ausgeht, tatsächlich? Sie behauptet, im Besitz von Raketen zu sein, die Tel Aviv erreichen könnten.

Das ist durchaus im Bereich des Möglichen. Die Hamas hat sich seit dem letzten Krieg 2008/2009 intensiv mit Waffen versorgt. Kritiker des Krieges sagten schon damals, die Situation nach dem Krieg wird schlimmer sein als vor dem Krieg, und die Gefahr für Israel, die vom Gazastreifen ausgeht, wird noch wachsen. Die Hamas hat heute bessere Raketen, kann tiefer hinein nach Israel zielen. Und das Kalkül der Regierung in Gaza ist klar: Man kann keine militärische Parität mit Israel erreichen. Deshalb zielt man hin auf ein Gleichgewicht des Schreckens, um so Druck auf Israel ausüben zu können in Richtung Aufhebung der Blockade.

Wo kommen die Waffen her?

Die Raketen kommen aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Iran über den Libanon und über das Meer in den Gazastreifen, vorausgesetzt die allgemein vorliegenden Informationen sind korrekt.

Auch im Iran wird die Entwicklung genau verfolgt. Welche Rolle nimmt Teheran bisher in diesem Konflikt ein?

Israel ist die einzige Atommacht in der Region und versucht, sie auf der Basis seiner militärischen Stärke zu dominieren. Der Iran hat ähnlich wie die Türkei Ansprüche, eine regionale Großmacht zu werden. Angestrebt wird ein Gleichgewicht mit Israel. Sie versuchen durch entsprechende Bündnisse eine Position der Stärke für sich herauszuschlagen.

Israel hat mit den USA ebenfalls einen starken Verbündeten. Das Pentagon hat bereits angekündigt, Amerika stehe zu seinem Partner Israel. Ein richtiges Signal?

Ein anderes Signal war nicht zu erwarten. Obwohl es wünschenswert gewesen wäre, dass dieses Bekenntnis gekoppelt worden wäre mit einer Aufforderung an Israel zu Deeskalation und zu Verhandlungen mit den Palästinensern mit dem klar proklamierten Ziel, die Blockade des Gazastreifens und die Besatzung der palästinensischen Gebiete zu beenden. Niemand hat irgendetwas davon, wenn die Situation sich weiter zuspitzt.

Die Politikwissenschaftlerin und Nahostexpertin Helga Baumgarten (geb. 1947) lehrt seit 1993 als Professorin an der Bir Zait Universität bei Ramallah und leitet dort das Master-Programm Democracy and Human Rights Sie wohnt in Ostjerusalem. Baumgarten studierte Geschichte und Arabisch in London, New York und Berlin. 1985 promovierte sie über die palästinensische Nationalbewegung.
Die Politikwissenschaftlerin und Nahostexpertin Helga Baumgarten (geb. 1947) lehrt seit 1993 als Professorin an der Bir Zait Universität bei Ramallah und leitet dort das Master-Programm Democracy and Human Rights Sie wohnt in Ostjerusalem. Baumgarten studierte Geschichte und Arabisch in London, New York und Berlin. 1985 promovierte sie über die palästinensische Nationalbewegung.

© privat

War es denn Zufall, dass diese Offensive erst nach der US-Wahl stattfand?

Man geht hier davon aus, dass die Regierung Netanjahu erkannt hat, dass es nicht sinnvoll ist, irgendwelche Eskalationen in irgendeiner Form vor den US-Wahlen zu starten. Es ist ganz klar so, dass man gewartet hat, bis die Wahlen vorbei waren.

Welchen Beitrag kann Deutschland leisten, um den Konflikt zu entschärfen?

Nun, ich denke, dass Deutschland, zusammen mit der EU,  zum einen auf eine sofortige Beendigung der Gewalt drängen sollte. Vor allem aber sollte Deutschland, auch dies im Rahmen der EU, endlich einmal klar artikulieren, dass nur eine Beendigung der Besatzung, ein Stopp der Siedlungspolitik und eine politische Entwicklung in Richtung eines palästinensisch-israelischen Friedens Sicherheit für alle Menschen, ob Palästinenser oder Israelis, in Israel/Palästina bringen kann.

Die Politikwissenschaftlerin und Nahostexpertin Helga Baumgarten (geb. 1947) lehrt seit 1993 als Professorin an der Bir Zait Universität bei Ramallah und leitet dort das Master-Programm Democracy and Human Rights. Sie wohnt in Ostjerusalem. Baumgarten studierte Geschichte und Arabisch in London, New York und Berlin. 1985 promovierte sie über die palästinensische Nationalbewegung.

Das Gespräch führte Sidney Gennies

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