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Missbrauch: „Die Opfer geraten aus dem Blick“

Die Strafrechtlerin Tatjana Hörnle fordert, Täter sexuellen Missbrauchs länger zu verfolgen – und Regeln zur Verjährung zu ändern.

Opfer von sexuellem Missbrauch beklagen, dass die Verjährungsfristen zu kurz sind und den Tätern helfen. Am 6. Juni veranstaltet der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs eine Anhörung zu diesem Thema. Sehen Sie Reformbedarf?

Für zurückliegende Fälle kann man das Recht leider nicht ändern. Die meisten Fälle aus den 70er oder 80er Jahren dürften also endgültig verjährt sein.

Werden das die Opfer des Missbrauchs von damals verstehen?

Man muss es erklären. Eine rückwirkende Aufhebung von Verjährungsfristen käme nicht in Betracht. Das Rückwirkungsverbot ist in einem Rechtsstaat sehr wichtig – der Staat darf seine Ankündigung, Straftaten nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verfolgen, nicht überraschend wieder durch rückwirkende Gesetze, die bereits verjährte Taten betreffen, wieder rückgängig machen. Wenn wir über Änderungen nachdenken sollten, dann bei den noch nicht verjährten Taten und Taten, die in der Zukunft geschehen werden.

Kommen die Opferinteressen im Strafrecht zu kurz?

Ja. Im Strafrecht geht es traditionell um die Perspektive der Gesellschaft, um das Interesse der Allgemeinheit, Straftaten zu verhindern, abzuschrecken oder den Täter zu bessern. Hinzu kommt, dass viele Strafrechtswissenschaftler auch Strafverteidiger sind und daher eher am Täter orientiert argumentieren. Die Opfer geraten aus dem Blick. Das muss sich ändern.

Die Ansprüche von Missbrauchsopfern auf Schadensersatz und Schmerzensgeld wurden kürzlich von drei auf 30 Jahre verlängert. Wäre ein solcher Sprung auch bei den Verjährungsfristen im Strafrecht sinnvoll?

Man könnte noch einen Schritt weitergehen und fragen, ob es überhaupt eine Verjährung geben muss. In England zum Beispiel gibt es sie nicht.

Wollen Sie die Verjährung abschaffen?

Nein, aber sie sollte stärker differenziert werden. Bisher wird die Verjährung an die Höhe der Strafe gekoppelt, was einerseits richtig ist, weil das härter bestrafte Delikt damit auch später verjährt. Es wäre jedoch sinnvoll, sich auch an der Art der Tat zu orientieren. Ein Umwelt- oder ein Eigentumsdelikt kann schneller verjähren. Aber wenn es gegen den Menschen geht, sollten die Verjährungsfristen verlängert werden, bei Tötungsdelikten, schwerer Körperverletzung, Entführung, Sexualdelikten oder Menschenhandel. Da kann man auch darüber nachdenken bei besonders schweren Taten mit Todesfolge die Fristen ganz abzuschaffen.

Jetzt verjährt eine Missbrauchstat an einem Kind, wenn das Opfer älter als 41 Jahre alt ist. Reicht das nicht?

Das gilt nur bei sehr schweren Verbrechen, etwa wenn ein Kind über Jahre massiv vergewaltigt wurde. Aber was, wenn es erst mit 42 Jahren den Mut hat, den Peiniger anzuzeigen? Vor allem aber sind die Verjährungsfristen bei weniger schweren Fällen zu kurz, etwa wenn ein Lehrer ein Verhältnis mit einer 14-jähriger Schülerin hat, gegen ihren Willen, auch wenn sich das Mädchen vielleicht nicht sichtbar sträubt. Das verjährt nach fünf Jahren, spätestens, wenn die Frau 26 Jahre alt ist. Das ist zu knapp.

Um wie viele Jahre sollte man die Fristen verlängern?

Der Gesetzgeber sollte sich die Verjährungsfristen noch einmal grundsätzlich ansehen. Das wäre das langfristige Projekt. Die kleine Lösung für Missbrauchsfälle wäre, die sogenannten „Ruhefristen“ zu verlängern. Das ist das Lebensjahr, ab dem die Verjährungsfrist zu laufen beginnt. Im Moment wird ab dem 21. Lebensjahr gerechnet. Das ist zu kurz. In Österreich beginnt es erst nach dem 28. Lebensjahr. Ich schlage vor, die Verjährungsfristen erst ab dem 30. oder 35. Lebensjahr laufen zu lassen.

Warum erst so spät?

Viele Menschen können erst viel später darüber sprechen, was ihnen als Kind angetan wurde. Oft ist eine Therapie der Auslöser. Einer Therapie unterzieht man sich in aller Regel aber nicht in frühen Jahren. Auch haben viele Opfer erst dann Mut, eine Strafanzeige zu erstatten, wenn sie nicht mehr sozial oder ökonomisch von der Institution oder der Familie abhängig sind, in der der Missbrauch geschehen ist.

Wie realistisch ist es, dass in der nächsten Legislaturperiode die Verjährungsfristen verändert werden?

Ich halte es nicht für unrealistisch. Die SPD will sich dafür ausdrücklich einsetzen, so steht es in ihrem Wahlprogramm. Die FDP macht sich in ihrem Programm stark für eine unabhängige Kommission für die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, auch die Grünen unterstützen eine solche unabhängige Kommission. CDU und CSU schreiben noch an ihren Programmen.

Das Gespräch führten Claudia Keller und Jost Müller-Neuhof. Tatjana Hörnle ist Professorin für Strafrecht an der Humboldt-Universität. Sie forscht zum Reformbedarf im Strafrecht bei sexuellem Missbrauch und hat dazu Empfehlungen erarbeitet.

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