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Die Bundesministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (l./FDP) und Kristina Schröder (M./CDU) unterhalten sich im früheren geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau mit der Betroffenen Heidemarie Puls, die im Porträtraum auf ihr Foto zeigt.

© dpa

Missbrauchsopfer: Angstzustände noch nach Jahrzehnten

Schlimmer als Gefängnis - "Dunkelzelle" im sächsischen Jugendwerkhof Torgau. Opfer sexueller Übergriffe in DDR-Kinderheimen schildern zwei Bundesministerinnen ihr Leid.

Von Matthias Schlegel

Berlin - Es war eine ungewöhnliche Begegnung: Gleich zwei Mitglieder der Bundesregierung, nämlich Familienministerin Kristina Schröder (CDU) und Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), haben am Montag im sächsischen Torgau zwei Menschen gegenübergesessen, die in DDR-Kinderheimen misshandelt und sexuell missbraucht wurden. Heidemarie Puls und Ralf Weber berichteten über ihre damalige Leidenszeit. Vor der nächsten Sitzung des Runden Tisches gegen sexuellen Missbrauch am 1. Dezember nahmen die Politikerinnen nun diese Opfergruppe, mit der sich das Gremium bislang kaum befasste, in den Blick.

Es war kein Zufall, dass das Treffen in der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau stattfand. Denn sie ist in den vergangenen Monaten zu einem Anlaufpunkt, ja zu einem Vertrauenspartner vieler Menschen geworden, die bis heute unter ihren traumatischen Erlebnissen in DDR-Kinderheimen und Jugendwerkhöfen leiden. Insgesamt 474 staatliche Kinderheime gab es in der DDR. 38 davon waren sogenannte Spezialkinderheime und 32 Jugendwerkhöfe, wo jene Heranwachsenden verwahrt wurden, die als schwer erziehbar galten und nicht den Normen „sozialistischer Persönlichkeitsentwicklung“ entsprachen.

Nachdem im März dieses Jahres im Sog der Missbrauchsfälle in Einrichtungen der katholischen Kirche auch die ersten Fälle aus DDR-Zeiten bekannt geworden waren – vermittelt über die Torgauer Gedenkstätte –, ist Gabriele Beyler von diesem Thema geradezu überrollt worden. Sie ist nicht mehr nur Gedenkstättenleiterin, sondern Zuhörerin, Beraterin, ja eine Art Seelsorgerin für immer mehr Betroffene geworden.

„Bei uns haben sich bis heute 93 Menschen gemeldet, die in DDR-Kinderheimen sexuell missbraucht wurden“, sagte Beyler dem Tagesspiegel. Auffällig dabei sei, dass es Übergriffe dieser Art in allen Heimtypen gegeben habe, also nicht nur in den durch besonders drakonische Disziplinierungsmaßnahmen geprägten Sonderheimen und Jugendwerkhöfen. Zwar habe es besonders viele sexuelle Übergriffe im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau sowie in den Heimen des Kombinats der Sonderheime Berlin und dem Durchgangsheim im mecklenburgischen Demmin gegeben. „Erschreckend ist aber auch, dass solche Vorkommnisse aus sehr vielen sogenannten Normalkinderheimen berichtet werden. Auffällig ist auch der Missbrauch in Pflegefamilien, in die Kinder zeitweilig oder probeweise vermittelt wurden“, sagt Beyler.

In der Vergangenheit hatte es harsche Kritik daran gegeben, dass sich der Runde Tisch dieser Opfergruppe nicht angenommen hatte. Die Ministerinnen wollten mit ihrem Besuch in Torgau wohl auch dem Eindruck begegnen, es gebe Opfer erster und zweiter Klasse. Und so sagen sie ihren Gesprächspartnern Aufklärung und Hilfe zu.

Gabriele Beyler hat zwar Verständnis dafür, dass diese Betroffenengruppe eine Sonderrolle einnimmt, weil sich aus ihrem Schicksal keine Schlussfolgerungen für Prävention und Intervention, die Schwerpunktaufgaben des Runden Tisches sind, ziehen lassen. „Aber diese Menschen haben bis heute Depressionen, Angstzustände oder Panikattacken. Die Heimkinder der DDR müssen als Opfer des SED-Regimes politisch anerkannt werden, damit sie zum Beispiel kostenfreie Therapien oder andere medizinisch-psychologische Hilfe in Anspruch nehmen können“, sagt Beyler. „Sie brauchen Anlaufstellen für sensible Beratung und Unterstützung, weil sich viele von ihnen nicht ausreichend artikulieren können und Angst vor den Behörden haben.“

Zwar wurden jüngst mit dem 4. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz auch die ehemaligen Insassen von DDR-Jugendwerkhöfen und staatlichen Heimen in den Kreis derer einbezogen, die rehabilitiert werden können. Sie müssen allerdings nachweisen, dass die damalige Einweisung auch sachfremden politischen Zwecken gedient hat und mit Grundsätzen einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung nicht vereinbar ist. Das zu belegen, dürfte vielen schwerfallen.

Diese Erfahrung machte auch der heute 55-jährige Ralf Weber, der zu DDR-Zeiten nach familiären Problemen zwölf Jahre in insgesamt sieben Heimen verbrachte. Er erlebte Misshandlungen, Nötigungen und sexuelle Übergriffe. Für die Zeit im Jugendwerkhof Torgau wurde er rehabilitiert. Mit seinem Ansinnen, dies auch für die anderen Heimaufenthalte zu erreichen, ging er bis vor das Bundesverfassungsgericht. Karlsruhe verwies den Fall an das Oberlandesgericht Naumburg zur erneuten Prüfung zurück.

Vor wenigen Tagen erging dort der Beschluss: „Der Heimaufenthalt war keine mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbare Freiheitsentziehung oder ein ihr gleichgestelltes Leben unter haftähnlichen Bedingungen.“ Der Betroffene sei keiner politischen Verfolgung ausgesetzt gewesen. „Dass der Heimaufenthalt des Betroffenen weitestgehend durch Verbote und Strafen geprägt war, ist bedauerlich, geht aber nicht über das hinaus, was Kinder an üblichen Freiheitsbeschränkungen in dieser Zeit erfuhren.“

Was bei gegenteiliger Bewertung eine Ermutigung für tausende frühere DDR- Heimkinder gewesen wäre, empfinden sie in dieser Form als nachträglichen Freispruch des rigiden DDR-Erziehungssystems. Ralf Weber hat am Montag das dicke Aktenbündel über sein Schicksal den Ministerinnen auf den Tisch gelegt.

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