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Politik: Mit dem Mut der Vernunft

Von Peter von Becker

Hinterher, wenn gar nichts passiert ist, sind naturgemäß alle klüger. Und viele ganz kritisch. Hat nicht die Polizei, haben nicht Ministerien und Schulbehörden überreagiert, als diese Woche wegen wechselnder Internetdrohungen, wegen mörderisch oder selbstmörderisch klingender Briefe und angeblicher „Amok-Listen“ in Deutschland Schulen geschlossen oder evakuiert wurden? Zum Schrecken oder staunenden Grusel von Eltern und Kindern waren da unzählige schwer bewaffnete Beamte im Einsatz. Immerhin redet nun keiner mehr vom Polizeistaat. Es galt ja, ein mögliches Massaker zu verhindern. Aber bizarr und unheimlich wirkt das schon.

So lässt sich fragen, ob allein schon Worte wie „Amok“ und „Massaker“ zu einer Medien- und Massenhysterie beitragen, die ihrerseits Nachahmer, sogenannte Trittbrettfahrer, als geltungssüchtige Spinner auf den Plan ruft. In der Frage freilich steckt auch das Problem. Denn schreckliche, irrsinnige Gewaltausbrüche gab und gibt es genug. Wobei es schon reicht, wenn diese Welt der Brutalität von Littleton bis Erfurt und Emsdetten reicht. Selbst zum Trittbrett gehört noch immer ein Hauptfahrzeug – und zur symbolisch angedrohten Nachahmung eine reale Tat.

Jedes Bild, das von monströsen Taten wie dem Mord an Mitschülern, von Terroranschlägen und Amokläufen in die Welt geht, kann bei irgendwem auch zum Vorbild werden. Und je mehr Medien und Bilder existieren, je mehr die Macht der Bilder zunimmt, desto größer die Gefahr. Trotzdem will kein vernünftiger Mensch wegen weniger Unvernünftiger die allgemeine Presse- und Medienfreiheit beschneiden und Nachrichten zensieren. Auch ist das Internet als weltweites Netz zu grobmaschig, um im Meer der Virtualität jeden real schmutzigen Fisch am Schwimmen zu hindern.

Allerdings lassen sich mit verbesserter internationaler Fahndung – etwa auf dem Gebiet der Kinderpornografie – die Maschen enger ziehen. Und die skandalöse Verbreitung immer realistischerer elektronischer Killerspiele unter Minderjährigen strafbewehrt zu erschweren, ist wenigstens den Versuch wert. Für sensible Gemüter immer ekliger, wirkt die bildhafte Gewalt für viele andere immer reizvoller. Jegliche Prävention allerdings würde, wenn überhaupt, erst eine nächste Generation sozial verwüsteter Jugendlicher erreichen.

Es gibt jedenfalls keine Patentrezepte. Nirgends. Jeder Verrückte und jeder Zyniker kann heute mit einer Gewaltdrohung Flughäfen, Bahnhöfe, Industrieanlagen, Schulen und Innenstädte lahmlegen. Kann Bundesligaspiele oder Volksfeste gefährden. Eine komplexe, plurale, freiheitliche Gesellschaft ist in Zeiten unzähliger Terrorvarianten auf unheimliche Weise verletzbar. Und alles öffentliche Leben erpressbar. Zumindest kurzfristig. Längerfristig aber würden einzelne Gewalttäter oder terroristische Gruppen nur gewinnen, wenn wir die Freiheit der eigenen Verletzbarkeit um den Preis der Freiheit selbst abschaffen würden. Das wäre dann die totale, die totalitäre Staatssicherheit: die Diktatur. In Nordkoreas Schulen gibt es wohl keinen Amokalarm.

Amok heißt umgedreht übrigens Koma. Ein Koma der Vernunft wäre heute persönliche Panik – ebenso wie weniger demokratiestaatliche Wachsamkeit. Englands Bürger versuchen sich seit den U-Bahnanschlägen in London nach israelischem Vorbild in einer Art alltäglicher „heroischer Gelassenheit“. In Deutschland haben wir noch Glück. Bisher brauchen wir dazu wenig Heldenmut.

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