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Politik: Mit den Augen der Anderen

Von Matthias Thibaut, London und Malte Lehming, Washington Britische Zeitungen haben ausführlich, auch mit großen Titelaufmachern, über das Blutbad von Erfurt berichtet - aber eine Erklärung für das Unfassbare konnten auch sie nicht bieten. „Ein internationales Problem“, schrieb die „Times“ lapidar über der langen Liste vergleichbarer Verbrechen.

Von Matthias Thibaut, London und Malte Lehming, Washington

Britische Zeitungen haben ausführlich, auch mit großen Titelaufmachern, über das Blutbad von Erfurt berichtet - aber eine Erklärung für das Unfassbare konnten auch sie nicht bieten. „Ein internationales Problem“, schrieb die „Times“ lapidar über der langen Liste vergleichbarer Verbrechen. Sie begann mit dem Massaker von Dunblane, dem kleinen schottischen Dorf, wo der Waffenfanatiker Thomas Hamilton im März 1996 16 Kindergartenkinder erschoss.

Angst vor Schülergewalt ist in Großbritannien verbreitet, auch wenn sie sich auf Schulen in innerstädtischen Krisengebieten konzentriert, wo ein hoher Prozentsatz der Schüler Dauerschwänzer sind, regelmäßig Messer zur Schule bringen und die Jugendkriminalität bis in die Klassenzimmer vorgedrungen ist. Gewalttaten durch verwiesene Schüler sind in Großbritannien ein Thema, seit ein 14-Jähriger vor fünf Jahren in London den Schulleiter Philip Lawrence erstochen hatte. Der strenge und prinzipientreue Pädagoge hatte 60 Kinder von seiner Schule verwiesen - auch seinen jungen Mörder.

Gerade in den Tagen vor dem Lehrermassaker von Erfurt lief die Debatte über Schülergewalt bei den Briten wieder auf Hochtouren. Der Anlass war der Freispruch von zwei Jugendlichen, die in einem dreimonatigen Sensationsprozess wegen Mordes an dem 10-jährigen Damilola Taylor freigesprochen worden waren. Die Polizei hatte nicht genügend stichhaltige Beweise für die brutale Tat an dem fröhlichen Einwandererkind beibringen können, das am hellichten Nachmittag in einer Sozialsiedlung in Peckham verblutetet. Die Zeitungen waren voll von Berichten über das Terrorregime der von ihrer Schule verwiesenen Angeklagten in Peckham - dem Teil Londons, in dem in einem Testversuch im vergangenen Jahr zum ersten Mal ein Polizist in einer Schule stationiert wurde.

Am Montag gab Erziehungsministerin Estelle Morris nun die Ausweitung dieses Projekts bekannt. Umgerechnet 16 Millionen Euro werden für solche Polizeieinsätze an Krisenschulen bereitgestellt. Aufgabe der Polizisten ist es, in den Schulen selbst nach Straftätern zu fahnden und Schüler zu beraten, wie sie sich gegen Bandengewalt zur Wehr setzen können. Die Schulpolizisten sollen auch Parks und Einkaufszentren nach Schulschwänzern absuchen. „Die Verbindung zwischen Schulschwänzen und Verbrechen ist zu eindeutig, um sie zu ignorieren“, sagte die Ministerin.

In den USA derweil war das Echo am Montag kaum noch zu hören. In den amerikanischen Zeitungen waren die Nachrichten über das Massaker von Erfurt auf Meldungsgröße geschrumpft. Die Titelseiten dominierten ein heimischer Tornado, die Entwicklungen im Nahen Osten und die Nachbeben der Priester-Skandale. Verschwunden war das Thema auch aus allen Fernsehkanälen. Diskussionsrunden oder Expertenbefragungen darüber hatte es ohnehin nicht gegeben. Der Grund für das Desinteresse ist zweifach: Deutschland ist zu weit weg und das Phänomen zu wenig neu. Im Mutterland der Schulschießereien nimmt man lediglich zur Kenntnis, dass Europa jetzt offenbar eine Entwicklung eingeholt hat, mit der die US-Gesellschaft seit Jahren konfrontiert ist.

Deutschland sei traurig, aufgewühlt und konfus, heißt es in der „Washington Post". Allerdings wird das Blutbad von Erfurt in einen größeren europäischen Kontext gestellt. Die Gewalt habe überall auf dem alten Kontinent zugenommen. Längst sei klar, dass sich die Exzesse nicht mehr mit dem Hinweis auf die „exportierten amerikanischen Verhältnisse“ erklären ließen. „In Frankreich, Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern sehen sich die Gesellschaften gezwungen, selbst in den Spiegel zu schauen.“

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