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Politik: Mit den Stimmen der Toten

Die Anklage benutzt Aufnahmen vom 11. September, um Todesstrafe für „20. Todespiloten“ durchzusetzen

In den jüngsten Tagen hat Amerika den Terrorangriff vom 11. September 2001 noch einmal durchlitten. Die Nation bekam herzzerreißende Mitschnitte aus den entführten Flugzeugen zu hören; bisher waren sie unter Verschluss. „Bitte, tut mir nichts, ich will nicht sterben“, fleht ein weibliches Opfer mehrfach. Minuten später ist sie verstummt. „Ist erledigt“, sagt eine männliche Stimme auf Arabisch. Mit den Dokumenten will die Anklage die Geschworenen im Prozess „Vereinigte Staaten gegen Zacarias Moussaoui“ dazu bringen, die Todesstrafe über den „20. Todespiloten“ zu verhängen. Aber es gibt Amerikaner, die davor warnen – aus juristischen Bedenken wie aus Sicherheitserwägungen.

Der „clash of civilizations“ ist zu einem Schlagwort geworden, das sich fast beliebig anwenden lässt, nicht nur im Konflikt zwischen dem Westen und der muslimischen Welt. Im Gerichtssaal von Alexandria, Virginia, ist dieser Zusammenprall verschiedener Wertesysteme, Gefühls- und Vorstellungswelten seit Wochen sehr real. Der Prozess neigt sich dem Ende zu, aber er scheint keine Brücken zu finden zwischen der Realität, in der der Angeklagte lebt, und der ihn umgebenden Wirklichkeit – und das schließt seine Verteidiger ein. Moussaoui arbeitet gegen sie, auch gegen die Strategie, die ihn vor der Todesstrafe retten soll.

Wie die realen 19 Attentäter, die am 11. September 2001 vier Flugzeuge entführten – zwei flogen sie in das World Trade Center in New York, das dritte ins Pentagon in Washington, das vierte stürzte über Pennsylvania ab, als mutige Passagiere den Kampf aufnahmen –, hatte der 37-jährige Marokkaner mit französischem Pass Flugunterricht in den USA genommen und sich am Flugsimulator für Passagierjets trainieren lassen.

Nach eigener Aussage gehörte er zu den Al-Qaida-Verschwörern und hatte den Auftrag, ein weiteres Flugzeug ins Weiße Haus zu steuern, entweder am gleichen Tag oder später. Seine Verteidiger porträtieren ihn dagegen als „Möchtegern-Terroristen“, der zwar weitgehend eingeweiht war in die Pläne, der aber geistig beschränkt sei, weshalb er den Pilotenschein nicht schaffte. Osama bin Laden habe ihn aussortiert.

„Lebenslänglich“ oder Hinrichtung, nur das ist noch die Frage. Nach dem ersten Verfahrensteil hat die Jury entschieden, dass die Voraussetzungen für die Todesstrafe erfüllt sind: Hätte Moussaoui sein Wissen gleich nach der Verhaftung preisgegeben, hätte man den Angriff am 11. September verhindern können. Also ist er mitschuldig am Tod von nahezu 3000 Menschen. Im zweiten Teil geht es um die Frage, ob er zum Tode verurteilt wird. Eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit etwa wäre ein Hinderungsgrund.

In der vergangenen Woche hat Moussaoui mal wieder begierig die Gelegenheit ergriffen, sich selbst zu vertreten. In solchen Momenten ist er der beste Zeuge der Anklage, seine Verteidiger bringt er zur Verzweiflung. Über einen Pentagon-Mitarbeiter, der sich aus den Trümmern befreien konnte, sagt er nach dessen Zeugenauftritt: „Ich bedaure, dass er überlebt hat.“ Über die Anschläge selbst: „Schade, dass wir nicht noch viel mehr Amerikaner töten konnten.“ Auf die Frage, ob er weiter vorhabe, Flugzeuge in Gebäude mit Zivilisten zu steuern: „Jederzeit, sofort, noch heute.“ Und er droht, wenn man ihn zu „lebenslänglich“ verurteile, werde er auch im Gefängnis amerikanische Mitgefangene angreifen.

Mit seinen Pflichtverteidigern dagegen streitet sich Moussaoui. Am Donnerstag verlangt er plötzlich einen muslimischen Verteidiger. Als ihn seine Anwälte erinnern, er habe sie doch selbst gebeten, keinen Muslim einzubinden und keine Anträge zu stellen, die sein Leben retten könnten, sagt er: „Ihr seid Amerikaner, ihr seid Juden, ihr vertretet nicht meine Interessen, ich misstraue euch.“

Als die Mitschnitte aus den Flugzeugen vorgespielt werden, triumphiert Moussaoui und verspottet die anwesenden Angehörigen von Opfern. Emotionsgeladen verlangen die später draußen vor dem Gericht die Todesstrafe.

Der öffentliche Druck ist stark. Aber es gibt auch warnende Stimmen. Ist es nicht offensichtlich, dass der Angeklagte geistesgestört ist? Er fantasiert, Präsident Bush werde ihn begnadigen, um ihn gegen gefangene US-Soldaten auszutauschen. Das überzeugendste Argument gegen die Todesstrafe gegenüber der Jury lautet für ihn: „Lebenslänglich“ sei doch viel grausamer. Manche US-Zeitungen argumentieren: Ein hingerichteter Moussaoui sei gefährlich für die USA, er werde zum Märtyrer und Vorbild. Einen eingesperrten Ex-Terroristen dagegen werde die muslimische Welt rasch vergessen; Gefangene gelten dort als Verlierer.

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