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Politik: Mit V-Leuten nach Grosny

Moskaus Geheimdienst will verdeckte Ermittler in radikale tschetschenische Gruppen einschleusen

In Russland wird der Ruf nach Vergeltung für das Geiseldrama lauter. Mehr als die Hälfte der Bürger verlangt in Umfragen eine härtere Gangart gegen die Rebellen – und rennt bei Russlands Führung damit offene Türen ein. Verteidigungsminister Sergej Iwanow stoppte am Sonntagabend den Truppenabzug aus Tschetschenien und gab Befehl für „harte“ Sonderoperationen in allen Kreisen der Republik. Der geplante Abzug von 12 000 Soldaten des Innenministeriums, die durch moskautreue tschetschenische Milizionäre ersetzt werden sollten, wurde bereits am Mittwoch abgeblasen.

Zwar sollen „konkrete Adressen“ Ziel der neuen Offensive sein. Doch dabei hatte Moskau bisher keine glückliche Hand und brachte auch loyale Bevölkerungsgruppen gegen sich auf. Experten warnten daher bereits vor einer neuen Eskalation der Gewalt in und außerhalb der Republik. Bei den Rebellen steht derzeit bereits der zweite Generationswechsel an: Im zweiten Krieg kämpfte zunächst vor allem, wer im ersten erwachsen geworden ist. Im muslimischen Kaukasus gelten Jungen schon ab zwölf Jahren als Männer. Heute werden die Verluste zunehmend mit Kämpfern ausgeglichen, die bei Beginn des ersten Krieges im Dezember 1994 höchstens vier Jahre alt waren und mit Frieden keine eigenen Erinnerungen mehr verbinden. Häufig haben sie ihre gesamte Familie bei Flächenbombardements und „Säuberungen“ verloren. Die Gewaltbereitschaft und weitere Radikalisierungen nehmen dabei nahezu zwangsläufig zu.

Ähnlich sehen das wohl auch die russischen Geheimdienste, die daher im Staatssender RTR schon mal laut über die Einschleusung von V-Leuten nachdachten. Aus der Sicht von Experten ist dies ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen: Dass die neofaschistische RNJE inzwischen in vielen Regionen verboten werden konnte, ist zwar ein Verdienst, das sich nicht zuletzt die Schlapphüte an die Brust heften können. Doch islamischer Widerstand tickt nach anderen Regeln als der Ortsverein einer russischen Partei.

Konvertiten haben da als Agenten überhaupt keine Chance, Muslime, die es von Geburt an sind, kaum mehr: Sowohl im Kaukasus als auch in Zentralasien und Afghanistan erfolgen Neuaufnahmen in die durchweg als Geheimbünde organisierten Gruppen ausnahmslos durch Empfehlung von Verwandten. Dadurch soll Verrat minimiert werden. Verrat gilt als Schande, die zwangsläufig die Ächtung durch den Sippenverband nach sich zieht, die gleichbedeutend mit gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Selbstmord wäre. Daher, so der kritische Privatsender TWS, würden noch viele Russen und Tschetschenen „Geiseln der jeweils anderen Seite“ werden.

Der Tschetschenenführer Achmed Sakajew erwägt indes, in der EU Asyl zu beantragen. Der Kreml fordert nach wie vor Sakajews Auslieferung, für die jedoch nach Auffassung der dänischen Regierung die von Russland vorgelegten Beweise noch lange nicht ausreichen. Moskau geht es aber weniger um den Kopf, denn um die Demontage Sakajews: Der Vertraute des früheren tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow gilt als gemäßigt und kompromissbereit. Beides stört, wenn man das Scheitern von Verhandlungen, um die Putin nach Meinung von Experten im Vorfeld der Wahlen wohl nicht herumkommen wird, den Rebellen anlasten will. Zumal der Krieg im Kaukasus auch als Vorwand für eine härtere innenpolitische Gangart in Russland taugt.

Die Zahl der Opfer des Geiseldramas stieg unterdessen auf 120. Eine Frau starb am Wochenende an Herzversagen. 148 Menschen sind noch immer in Krankenhäusern.

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