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Politik: Mitterrand beliebter als de Gaulle

„Mitterrand wiedergewählt!“ Mit der ihr eigenen Ironie brachte die Pariser Zeitung „Libération“ das Ergebnis einer überraschenden Umfrage auf den Punkt.

„Mitterrand wiedergewählt!“ Mit der ihr eigenen Ironie brachte die Pariser Zeitung „Libération“ das Ergebnis einer überraschenden Umfrage auf den Punkt. Nicht Charles de Gaulle erhält heute von den Franzosen als bevorzugter Staatschef den Lorbeerkranz, sondern sein langjähriger Gegner François Mitterrand. 35 Prozent betrachten den vor zehn Jahren Verstorbenen mit seiner doppelten Amtszeit von 1981 bis 1995 als den besten Präsidenten der Fünften Republik. Für General de Gaulle stimmten 32 Prozent, weit abgeschlagen folgten die übrigen drei: der gegenwärtige Amtsinhaber Jacques Chirac mit 12, Georges Pompidou (1969–74) mit sieben und Valéry Giscard d’Estaing (1974–81) mit fünf Prozent.

Die Rangliste ist ein weiterer Tiefschlag für Mitterrands Nachfolger Chirac. Er hat ein schlimmes Jahr mit zahllosen Niederlagen und Krisen, vom EU-Referendum Ende Mai bis zu den Vorstadt-Krawallen im November, hinter sich. Schon jetzt schätzen seine Landsleute die Bilanz nach mehr als elf Jahren Amtszeit als äußerst mager ein. De Gaulle und Mitterrand hingegen sind eine Kategorie für sich. Sie standen sich bei den Präsidentschaftswahlen von 1965 als Rivalen gegenüber. Damals unterlag Mitterrand, doch er verwandelte seine Niederlage zum Sprungbrett für seinen politischen Aufstieg.

Der General ist ein historisches Denkmal. Die Spuren, die Mitterrand hinterlassen hat, erscheinen den Zeitgenossen gegenwärtiger. Neben den Bauten wie der Pyramide des Louvre nennen sie die Abschaffung der Todesstrafe und vor allem soziale Errungenschaften wie die fünfte Urlaubswoche oder das Rentenalter 60. Die Mitterrand-Ära erscheint so aus heutiger Sicht manchen wie eine nicht allzu ferne „gute alte Zeit“ – als „Reform“ noch sozialen Fortschritt meinte und nicht Kostensenkung und Stellenabbau.

Für die Mitterrand-Nostalgie ist vor allem die französische Linke anfällig. Denn der Tod des einzigen sozialistischen Staatschefs der letzten fünfzig Jahre am 8. Januar 1996 hat ein politisches Vakuum hinterlassen. Noch streiten sich die designierten oder selbst ernannten Nachfolger um sein Erbe. Doch weder die Ex-Premierminister Laurent Fabius und Lionel Jospin noch andere Tempelwächter wie Ex-Kulturminister Jack Lang oder der sozialistische Parteichef François Hollande haben das Format und die Autorität des Politikers, dessen Wirken und Sterben sie am Sonntag vor dem Grab in Jarnac gedenken werden. Mitterrand war Humanist, Demokrat, überzeugter Europäer und ein Verfechter der deutsch-französischen Freundschaft. Aber war er je Sozialist aus Überzeugung?

Noch heute fasziniert Mitterrand die Franzosen durch seine schillernde Persönlichkeit, seine Schattenseiten und die Geheimnisse, die er in seinen letzten Jahren nur teilweise preisgab. Von allen Namen, die er im Verlauf seiner langen Politikerkarriere erhielt, ist „Sphinx“ wohl der treffendste. Im französischen Fernsehen jedenfalls hat die Riege von Dokumentarfilmen über sein Leben bereits begonnen. Und auf den Gedenktag hin publizieren Jacques Attali, engster Mitarbeiter im Elysée-Palast, sowie die Ex-Minister Hubert Védrine und Pierre Joxe ihre Erinnerungen. Mit der zeitlichen Distanz ist die Faszination Mitterrands nur gewachsen.

Rudolf Balmer[Paris]

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