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Politik: Mütter von Beslan besetzen das Gericht

Angehörige der Opfer beklagen lasche Ermittlungen über das Geiseldrama vor einem Jahr

Marina Pak war nicht mehr zu halten und schaffte es bis in die Schlagzeilen aller großen russischen Zeitungen. „Am Tod meiner Tochter ist also niemand schuld“, sagte sie der Moskauer „Gaseta“. „Daher bitte ich darum, mich als schuldig zu betrachten.“ Sie, so sagt Frau Pak, die beim Geiseldrama in der Schule von Beslan vor knapp einem Jahr ihre zwölfjährige Tochter verlor, werde den Gerichtssaal daher nur in Handschellen verlassen.

Im Gericht in Wladikawkas in der russischen Teilrepublik Nordossetien gehen die Wogen der Empörung hoch. Dort verhandelt das Oberste Gericht seit Frühjahr gegen Nurpascha Kulajew, den einzigen der rund 30 Terroristen, den die Fahnder nach der chaotischen Erstürmung der Schule am 3. September vergangenen Jahres lebend fassten. Als die Vorsitzende Richterin Marina Semischinowa am Dienstag, als erstmals auch Kinder als Zeugen vernommen wurden, eine Verhandlungspause ankündigt, besetzten etwa fünfzehn Frauen – Mitglieder des „Komitees der Mütter von Beslan“ – kurzerhand den Gerichtssaal und übernachteten dort. Weichen wollen sie erst nach einer Unterredung mit Nikolaj Schepelj, dem für den russischen Süden zuständigen Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft.

Ihre Forderung: Schluss mit dem bisherigen Spektakel, bei dem alle Schuld nur bei Kulajew und dessen Kumpanen gesucht wird, während Staatsbeamte, vor allem die höheren Dienstränge von Polizei und Geheimdiensten, wieder mal ungeschoren davonkommen. Bei mehr Wachsamkeit, sagt Susanna Dudijewa, die Vorsitzende des Mütterkomitees, hätte die Tragödie womöglich verhindert werden können. Dem russischen Staat lasten die Frauen außerdem die hohe Zahl von Opfern an: Von den insgesamt über 1300 Geiseln, die fast drei Tage lang in der Hand der Terroristen waren, starben 331, darunter 186 Kinder, bei der „Befreiung“ der Schule durch Eliteeinheiten der Armee. Das Wort „Erstürmung“ dürfen die hiesigen Medien offiziell nicht verwenden. Die Frauen von Beslan pochen daher auf objektive Ermittlungen zum Hergang der Tragödie, bei denen Ross und Reiter genannt werden. Unabhängig von Ämtern und Würden.

Genau damit aber tun sich bisher beide Untersuchungskommissionen schwer: die ermittelnden Staatsanwälte als auch die Parlamentarier – Senatoren und Dumaabgeordnete. Diese hatten den Termin für die Vorstellung ihres Berichtes bereits mehrfach verschoben und werden ihn auch bis zum Jahrestag der Tragödie nicht vorlegen. Vage vertröstet der Chef der Kommission, Alexander Torschin, die Öffentlichkeit inzwischen auf Mitte September.

Allzu hoch hängen sollte man die Erwartungen ohnehin nicht. Teile des Berichtes, sagt Torschin dem Radiosender Echo Moskwy, würden gesperrt, weil es Staatsgeheimnisse zu schützen gelte.

Bei vielen Fragen tappt die Öffentlichkeit denn auch weiter im Dunkeln: Wie viele Terroristen waren wirklich beteiligt? Hatten sie vor dem Anschlag Waffen in der Schule deponiert? Und wenn die „Befreiung“ eine Erstürmung war, warum erfolgte die erst nach drei Tagen?

Schwer ins Kreuzfeuer öffentlicher Kritik kommt inzwischen auch Putin persönlich. „Er hätte kommen müssen“, sagt Jelena Samessowa, die bei dem Drama beide Kinder verlor – die zehnjährige Natascha und den zwölfjährigen Igor – der „Gaseta“. „Wenn sie Putins Hund als Geisel genommen hätten, wäre er auch gekommen“, fügt sie hinzu.

Unterdessen ruft eine neue Nachricht die Erinnerung an das schreckliche Geschehen wach: In der russischen Teilrepublik Karatschi-Tscherkessien hätten Sicherheitskräfte nach offiziellen Angaben einen Terroranschlag auf eine Schule verhindert. Die Verdächtigen hätten eine Geiselnahme wie in Beslan vorbereitet, sagte Republikschef Batdyjew am Mittwoch.

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