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Politik: Mut zum Wissen

„Demokratie ist nichts für Analphabeten“, sagt die pakistanische Managerin Shireen Naqvi. Deshalb kämpft sie unermüdlich für das, was ihr Land am dringendsten braucht: Bildung.

Geduld ist ihre Sache nicht. Shireen Naqvi will etwas bewegen. Dafür will die Pakistanerin auch die Jugend begeistern. „Die jungen Leute müssen anfangen, sich selbst Jobs zu schaffen, und nicht darauf warten, dass sie irgendwo angeheuert werden“, sagt die 53-jährige Managerin. Jetzt aber muss sie sich erst mal orientieren. „Nicht betreten, oder Sie werden erschossen“, steht an einer Mauer. Shireen Naqvi ist beim Erzählen zu weit gefahren. Das martialische Ambiente gehört zum Armeegelände, die technische Hochschule liegt nebenan. Doch auch die wird bewacht, schließlich liegt das Karatschi-Institut für Wirtschaft und Technologie (KIET) in Pakistan.

Auf dem Gelände aber empfangen einen warmes Grün und überdachte Sitzgelegenheiten – pakistanische Universitäten sind meist sehr gepflegt, so auch der Campus der Luftwaffenhochschule in Korangi Creek, einem der ärmeren Viertel der 20-Millionen-Metropole. Hier studieren junge Männer und Frauen gemeinsam, insgesamt 2500 Studenten. Shireen Naqvi, ist Geschäftsführerin der „School of Leadership“, sie setzt sich für junge Menschen ein. Heute will sie Studenten fürs Geschäftemachen interessieren.

Pakistan hat unermesslich viele junge Leute, die Hälfte der gut 180 Millionen Einwohner ist unter 21 Jahre, aber selbst offiziellen Statistiken zufolge können nur 58 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben. Kritiker sagen, selbst diese beschämende Zahl komme nur zustande, weil alle eingerechnet würden, die nur ihren Namen schreiben könnten. Das Land, das manche spöttisch eine „gelenkte Anarchie“ nennen, hat schwere wirtschaftliche Probleme. Pakistan braucht gut ausgebildete Menschen, um voranzukommen. Dass Bildung ein entscheidendes Fundament für die Zukunft ihres Landes wie für das ganz persönliche Weiterkommen ist, wissen viele Pakistaner längst, auch wenn die Infrastruktur dafür in manchen Regionen zu wünschen übrig lässt.

Wie wichtig viele Pakistaner eine gute Ausbildung jenseits der landläufigen Klischees auch für die jungen Mädchen nehmen, hat gerade erst die überwältigende Reaktion auf das Attentat auf die 14-jährige Schülerin Malala Yousafzai aus dem Swat-Tal gezeigt. Malala hatte sich für die Ausbildung von Mädchen stark gemacht, die Taliban wollten ein Exempel statuieren und die Menschen einschüchtern. Das Gegenteil war der Fall. In den Medien wie in der Öffentlichkeit brach ein Sturm der Entrüstung los. Die Taliban hatten eine Grenze überschritten. Trotz ernst zu nehmender Drohungen gegen Journalisten entschieden deren Vereinigungen: Wir werden uns den Terroristen nicht ergeben. Es gab Lichterketten in Karatschi, Konferenzen in Lahore und Islamabad, Petitionen an Präsident Zardari. Malala ist längst zu einem Symbol geworden. Gegen die Taliban. Aber auch für die Bildung: Wer gut ausgebildet ist, wird gebraucht.

Genauso wie anderswo auf der Welt sind auch junge Pakistaner nicht so einfach zu begeistern, kleben allzu gern an Facebook und Co. fest. Immerhin, der Hörsaal am KIET ist bis auf den letzten Platz besetzt. Rund 70 Prozent junge Männer, 30 junge Frauen, die meisten von ihnen mit Tuch über dem Kopf. „Dass es nur so wenige Frauen sind, liegt nicht an den technischen Fächern, sondern daran, dass die Uni eine Dreiviertelstunde von der Stadtmitte entfernt liegt“, sagt einer der Dozenten. Er spricht es nicht aus, aber der Weg ist für viele junge Mädchen ein Problem, weil ihre Familien nicht wollen, dass sie allein so lange unterwegs sind. Auch an dieser Uni herrschen bei allem Miteinander durchaus konservative Sitten. Bevor es losgeht, kommt erst mal ein bärtiger Student ans Pult und rezitiert einige Koranverse auf Arabisch. Rasch zieht sich Shireen Naqvi das farblich auf die modisch wadenlange blaue Tunika abgestimmtes Tuch übers Haar – aber keinen Moment länger.

Sie hält sich nicht am Pult auf, das wäre ihr zu steif. Shireen Naqvi wirft die Power-Point-Präsentation an und schnappt sich ein Mikrofon, ohne das wäre sie unter den ratternden Ventilatoren kaum zu verstehen: „Ein Geschäft fängt immer mit einer Idee an“, sagt sie, während ihre mit Kajal dunkel umrandeten Augen hinter der lilafarbenen Puma-Brille die Reihen erforschen. Sie startet mit einer Rechenaufgabe: „Wie viele Leute kennen deine Idee nach einem Monat, wenn jeder, der davon erfährt, täglich einem weiteren davon erzählt?“ Die Studenten rätseln, schließlich steht für den 30. Tag die Zahl 1 073 741 829 an der Wand. Alle lachen, als der Klassenclown sich über das Ungetüm hermacht: „Eins – null – sieben – drei – ….“ Darauf hat Shireen Naqvi gewartet. Wenn sie lachen, hören sie zu. Es wird kurz still, als sie die Lösung zum Besten gibt: Mehr als eine Milliarde Kontakte in einem Monat – das könnten die Kunden der Studenten sein, wenn sie eine gute Geschäftsidee haben. Eine gute halbe Stunde fesselt die Unternehmerin ihre Zuhörer, spricht mal Englisch, mal Urdu, läuft durch die Reihen, lässt die Zuhörer auf kurze Fragen antworten.

Dann fordert sie die Studenten auf, Geschäftsideen vorzutragen. Adeel wagt sich nach vorn. „Ich werde ein System organisieren, bei dem nicht die Hälfte der Patienten auf dem Weg ins Hospital im Krankenwagen stirbt“, verkündet der junge Mann mit Bart. Shireen Naqvi ist begeistert. Endlich mal einer, der nicht als Erstes auf den eigenen Vorteil bedacht ist.

Dann ist Adeels 20-jährige Kommilitonin Najmus dran. Die Elektroingenieurstudentin schlägt ein Modelabel vor, das Kleidung für Frauen entwerfen soll, die ihr Gesicht verschleiern. Für die gebe es fast nichts Modisches, es müsse doch nicht immer alles schwarz sein, sagt Najmus. Sie trägt selbst ein schwarzes Shirt, drüber eine weiße Bluse. Shireen Naqvi findet diese Idee ziemlich langweilig, Mädchen kommen zu oft mit solchen Vorschlägen. Najmus ist offensichtlich nicht so sehr für Experimente, sie will ein geregeltes Leben. Deshalb wollte sie eigentlich beim Militär anheuern, dort zu arbeiten gilt in Pakistan immer noch als beste Absicherung. Erst als sie dort abgelehnt wurde, hat sie sich für die Uni eingeschrieben.

Najmus wohnt eine Stunde von hier im Stadtteil Malir, schon das Semesterticket für den Bus kostet 12 000 Rupien, das ist eine Menge Geld. Ein einfacher Handwerker verdient so viel in einem ganzen Monat. Najmus ist ein Einzelkind, auch ihre Mutter arbeitet. Als Lehrerin. Ihre Eltern haben sie gedrängt, unbedingt zu studieren, sagt sie: „Nach der Ablehnung musste es weitergehen.“

Najmus merkt, dass ihre Idee nicht so recht zündet. Sie präsentiert noch eine zweite. Die hat dann auch eher etwas mit ihrem Studium zu tun. Sie werde ein Netzwerk für Biomasse aufbauen, sagt sie nun. Pakistan leidet unter einer massiven Energiekrise, ganze Fabriken stehen deswegen still. „65 Prozent der Leute bei uns leben auf dem Land. Wenn wir Biomasse statt Öl oder Gas nutzen, haben die Bauern 24 Stunden Strom und abends auch Licht, dann könnten ihre Kinder lesen und lernen“, sagt Najmus. Was für deutsche Ohren wie ein Allerweltskonzept für den Einsatz regenerativer Energien klingt, ist für die Verhältnisse in einigen ländlichen Regionen Pakistans nicht ohne Risiko. Denn dort gibt es noch immer Gebiete, in denen Landbesitzer wie Feudalherren über die Bauern herrschen. Sie heißen auch „Feudals“. Und die sind nicht daran interessiert, dass ihre Leute viel wissen. Dann wüssten sie vielleicht bald auch um ihre Rechte.

Ja, sagt Najmus, natürlich müsste sie erst die Feudals überzeugen. Aber sie gibt sich kämpferisch: „Zu denen gehe ich hin, wir leben im 21. Jahrhundert! Kommt raus aus eurem Mittelalter.“ Hat sie denn keine Angst, dass religiöse Extremisten sie daran zu hindern versuchen? „Im Koran steht das Wort Iqra, das heißt lesen, und Gott sagt, sucht das Wissen, lernt. Und zwar alle“, sagt Najmus und streckt selbstbewusst ihren Oberkörper. Auch wenn die Gesellschaft männlich dominiert sei, es stehe nirgends, dass Frauen keinen Job haben sollten.

Shireen Naqvi ist unermüdlich unterwegs für junge Leute, um sie voranzubringen. „Demokratie ist nichts für Analphabeten“, sagt die Frau provozierend. „Von Ungebildeten können Sie für einen Fladen Brot ihre Stimme für die nächste Wahl kaufen.“ Sie liebt ihr Land, aber sie weiß auch um seine Schwächen. „Wir Pakistaner sind groß als Einzelne, aber wir sind keine Teamplayer.“ Sie glaubt, den Grund dafür zu kennen: „Jeder fühlt sich nur Allah verantwortlich.“ Und das führe dazu, dass sich jeder nur genau so weit kümmere, „wie die eigene Nase reicht, alles darüber hinaus interessiert ihn nicht“. So gehe es nicht voran. „Was wir brauchen, ist eine Zivilgesellschaft.“ Und dafür setzt sie auf die Jugend.

Mit den meisten Eltern ist sie nicht zufrieden. Sie richteten sich vor allem danach, was die Nachbarn über sie und die Familie denken könnten. Darum müssten die meisten Jugendlichen einfach nur funktionieren, damit das Ansehen stimmt. „Aber niemand fragt die Jugendlichen nach ihrer Meinung zu Politik, Philosophie, Sex. Wie sollen da Individuen entstehen?“ Meist werde ihnen nur gesagt, was sie nicht tun sollten. Im Grunde aber suche jeder Mensch nach Ermutigung. „Wir haben aber meist nur Entmutigung für sie parat“, sagt Shireen Naqvi. Dann wird ihre Stimme ganz weich. Jeder möchte doch mal hören: „Hast du gut gemacht.“ Sie lacht und freut sich über die Überraschung, die dieser Satz auslöst. Denn sie hat diese Worte auf Deutsch gesagt. „Meine Omi hat in Berlin-Schöneberg gewohnt. In der Freiherr-vom-Stein-Straße.“ Da war sie immer wieder mal auf Besuch und hat ein bisschen etwas von der Sprache aufgeschnappt.

Für 97 Prozent der Pakistaner, sagt Shireen Naqvi, sei Respekt am allerwichtigsten, das hat sie vor Jahren schon in einer Studie festgestellt. „Nur glauben sie, dass ihnen der Respekt von außen verliehen wird, und nicht, dass sie ihn aufgrund ihrer Leistung verdient haben.“ Dadurch hätten viele Pakistaner permanent Angst, der Respekt könne ihnen entzogen werden, wenn der Sohn oder die Tochter ungewöhnliche Wege einschlügen. Viele in der älteren Generation hätten ihrer Überzeugung nach unerfüllte Wünsche, deren Verwirklichung sie nun auch ihren Kindern nicht gönnten. „Aber in der nächsten Generation ist das schon besser. Die jungen Leute sind anders.“

Und da kommt wieder das Unternehmertum ins Spiel. Ein Geschäft aufzubauen, sagt Shireen Naqvi, bedeute Respekt für sich selbst und für andere. Unternehmertum ist also auch eine Keimzelle für die so dringend benötigte Zivilgesellschaft, die sich um das Fortkommen des Landes kümmern muss.

Im Moment liege selbst das bereits vorhandene Wissen allzu oft brach, klagt Shireen Naqvi. Eine frühe Heirat und Kinder seien kein Grund, nichts mehr zu machen, findet sie. Sie selbst hat mit 20 geheiratet, zwei Kinder großgezogen und ist inzwischen bereits Großmutter. Viele Frauen, sagt sie, nutzten ihr Wissen nicht für etwas Sinnvolles und langweilten sich zu Hause. „Sie sollten mal hören, wie sich meine Nachbarinnen streiten, wenn die Kinder morgens in der Schule sind und sie nichts mehr zu tun haben: auf höchstem Niveau!“ Solche Verschwendung ärgert die Managerin. „Die Intelligenz, die wir Pakistaner haben, ist phantastisch. Aber wir nutzen sie für die falschen Dinge.“ Und leider, leider dächten ihre Landsleute ständig in Extremen, seufzt sie. Nicht nur, was religiöse Extremisten angeht, lacht sie: „Wir haben die höchsten Berge, das kälteste und das heißeste Wetter, bei uns ist alles extrem.“

Dann klappt sie ihren Laptop zu, wirft die große rote Handtasche über die Schulter und eilt zu ihrem Auto. Sie muss zur nächsten Uni, es gibt so viel zu tun. „Ich liebe Probleme“, sagt sie, während sie den Motor startet. „Mein Ärger ist mein Ansporn.“

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