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Politik: Mythos Mutter

Von Caroline Fetscher

In einem kleinen Dorf in Hessen meldet eine besorgte Krankenschwester im August 1986 ihre kleinen Töchter, fünf und sieben Jahre alt, als vermisst. Dann überführt die Justiz ebendiese Mutter, Monika Weimar, des Mordes an den Mädchen Melanie und Karola. Millionen Menschen beschäftigt der Prozess. Die Boulevardpresse hetzt das lügende, leugnende und „Mutter Weimar“ genannte Monstrum, wie nun in Berlin die Mutter der achtjährigen Amani, die dem eigenen Kind die Kehle durchgeschnitten haben soll. Ende April wurde über eine Mutter berichtet, die vier minderjährige Sprösslinge monatelang in einer verkommenen Bleibe allein ließ. Wach ist auch noch die Erinnerung an jene Frau in Brandenburg, die im Lauf der Jahre unbemerkt neun Säuglinge auf ihrem Grundstück verscharrt hatte.

Nichts skandalisiert, empört unser Empfinden derart wie Missbrauch, Misshandlung und Ermordung des Kindes durch die Mutter, denn kaum etwas ist intensiver und mythischer besetzt als die Figur des Menschen, von dem wir in den ersten Lebensjahren abhängen. „So weich und warm / Hegt dich kein Arm / Wie dich der Mutter Arm umfängt / Nie findest du / So süße Ruh / Als wenn dein Aug’ an ihrem hängt“, reimte Paul Heyse (1830–1914) in „Mutterliebe“. In eine lyrische Nussschale packte er, was das 19. Jahrhundert zum Thema Mutter erfunden hatte: die einmalige, aufopfernde, selbstlose Zuwendung der primären Betreuungsperson nach der Geburt.

Historisch ist „Mutterliebe“ gleichwohl nicht belegbar, und die Heilige Madonna mit dem Kind eine utopische Ikone. Vielmehr stellt die Geschichte der Kindheit eine Geschichte der Gräuel dar, der Missachtung und Quälereien, wie nicht erst Lloyd de Mause nachwies. Schon die Epen der Antike zeichnen dysfunktionale Großfamilien, in denen Kinderopfer und mordende Mütter wie Medea auftauchen. In Wickelkissen gefesselte Babys, geprügelte, ausgesetzte und zur Arbeit gezwungene Kinder prägen über Jahrhunderte das Gesicht der Kindheit, Riemen, Schlagstöcke, Verbote und Strafen gehörten zu den pädagogischen Instrumenten der Väter wie der Mütter. Erst im Jahr 2000 verschaffte die Bundesrepublik mit Paragraf 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches Kindern das „Recht auf gewaltfreie Erziehung“ – zwanzig Jahre später als Schweden. Dort hatte sich übrigens die Kampagne zum Ende der Gewalt gegen Kinder nicht ohne Grund zunächst vor allem an eine Zielgruppe gerichtet: die Mütter.

Donald Winnicott, einer der brillantesten Kinderanalytiker seiner Zeit, erklärte in einem Essay von 1948, warum Mütter von Beginn an Hass- und Wutgefühle gegen das Kind hegen. Hatte Freud noch angenommen, Mütter könnten wenigstens Söhnen allein mit Liebe begegnen, räumte Winnicott mit dieser Illusion wertneutral auf. Zu zahlreich sah er objektive Gründe für den Zorn der Mütter auf das Kind. Die Schwangerschaft beschwert den Leib, die Geburt bereitet Schmerzen und kann gefährlich sein, ein Baby stört Schlaf und Freiheit, es versklavt die Eltern, es fordert und fordert, nimmt und nimmt, ohne zu geben. Immer kommt das Baby an erster Stelle. Umso bemerkenswerter ist es daher, sagt Winnicott, wenn Mütter, wenn Eltern, Hass und Zorn ertragen und in sich verarbeiten, ohne Rache zu nehmen am Kind. Darin liegt die unglaubliche Fähigkeit der, wie Winnicott sie nennt, „hinreichend guten“ Mutter.

Nicht Mythos noch Ikone, gibt eine gute Mutter – und auch ein guter Vater! – Halt, Schutz, Anregung und Lenkung, damit sich das abhängige Geschöpf Schritt für Schritt lösen und in die Selbstständigkeit bewegen kann. Als innere Instanz behält der wachsende Mensch das gute Objekt seiner Kinderzeit bei sich, kann sich in Krisenzeiten darauf verlassen und später an andere wie Kinder oder Mitarbeiter weitergeben. Fehlt dieser Rahmen, entgleist die Mutterschaft, verunglückt die Elternrolle, bleiben seelische Katastrophen unbearbeitet und können individuell ausufern bis hin zum Infantizid, dem Kindesmord, wie ihn die Mutter der Amani begangen haben soll. Je weniger solcher Elternkatastrophen und Katastropheneltern existieren, desto zivilisierter ist eine aufgeklärte Gesellschaft.

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