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Polizisten führen bei einer Razzia gegen Islamisten am 04.02.2016 in Berlin einen mit einem Tuch verdeckten Verdächtigen ab.

© dpa

Nach Anschlag in Berlin: Wer sind die "Gefährder" und welche Gefahr droht?

Die Sicherheitsbehörden warnen: Die Zahl der islamistischen Gefährder steigt. Woher kommen sie und welche Gefahr droht uns? Fragen und Antworten zum Thema.

Von Frank Jansen

Der Anschlag in Berlin ist eine Zäsur, für die Sicherheitsbehörden aber keine Überraschung. Schon seit Jahren beschreiben Polizei und Nachrichtendienste die Terrorgefahr. Fraglich sei nicht, ob ein größerer Angriff komme, sondern wann, lautete die nahezu rituelle Prognose. Nicht nur wegen der vergleichsweise kleinen Anschläge, die Deutschland bereits getroffen haben. Die Risikofaktoren werden von Jahr zu Jahr größer. Eine Trendwende ist nicht in Sicht.

Von wem geht in der Bundesrepublik die größte Gefahr aus?

Konkret benennen kann die Polizei mehrere hundert „Gefährder“. Gemeint sind Personen, die als potenzielle Terroristen erfasst sind. Das Bundeskriminalamt listet aktuell mehr als 540 Islamisten auf, denen Anschläge und weitere „politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung“ zugetraut werden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz, das weiter gefasste Kriterien anwendet, spricht sogar von einem „islamistisch-terroristischen Personenpotenzial“ mit 1200 Leuten. Jedenfalls steigen die Zahlen von Polizei und Nachrichtendienst unaufhörlich. Im Januar 2011 hatte die Bundesregierung, gestützt auf Erkenntnisse der Polizei, von 131 islamistischen Gefährdern berichtet. Im Januar 2015 waren es 266, im Dezember des Jahres 442. Und 2016 kamen noch mal ungefähr 100 Gefährder hinzu. In ihrem Umfeld bewegen sich nach Erkenntnissen des BKA 360 „relevante Personen“. Das sind Islamisten, die bereit sind, bei der Vorbereitung eines Anschlags zu unterstützen.

Warum gibt es immer mehr Gefährder?

Ein Grund für das rapide Wachstum ist der „Erfolg“ der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Weltweit waren Salafisten elektrisiert, als es den Kämpfern des IS im Frühsommer 2014 gelang, ein größeres Territorium zu erobern und in den besetzten Gebieten in Syrien und Irak ein „Kalifat“ auszurufen. Der Aufstieg der Terrormiliz bewirkte in den vielen Islamistenmilieus einen Radikalisierungsschub und verschaffte ihnen auch beachtlichen Zulauf junger Menschen.

Zu den von der Polizei als Gefährder eingestuften Personen zählt seit Februar auch Anis Amri, der mutmaßliche Täter in Berlin. Nach Erkenntnissen des BKA hält sich allerdings nur die Hälfte der Gefährder in Deutschland auf. 80 von ihnen befinden sich in Haft. Die Terrorgefahr lässt jedoch nicht nach, wenn Gefährder ausreisen oder in einer Zelle sitzen.

Im Gefängnis verhärtet sich oft noch die militant islamistische Gesinnung. Und die Gefährder, die Deutschland verlassen, landen meist beim IS. Mehr als 70 Salafisten aus der Bundesrepublik sollen sich laut BKA in der Kriegsregion Syrien-Irak an Kämpfen beteiligt oder zumindest ein entsprechendes Training absolviert haben. Ungefähr 140 sind bei Kämpfen oder als Selbstmordattentäter gestorben. Einige wurden offenbar auch vom IS hingerichtet, weil sie als Verräter oder Deserteure galten.

Wie „attraktiv“ ist der IS heute noch?

Die Anziehungskraft hat stark nachgelassen. Polizei und Nachrichtendienste registrieren kaum noch Ausreisen von Salafisten, die nach Syrien und Irak wollen. Die militärischen Niederlagen des IS schrecken ab, außerdem ist es inzwischen schwierig, auf den klassischen Routen über die türkische Grenze ins Gebiet der Terrormiliz zu gelangen. Dem BKA liegen aktuell Erkenntnisse zu 890 Islamisten aus Deutschland vor, die sich in Richtung Syrien/Irak begeben haben, um für den IS oder eine andere Terrorgruppe zu kämpfen. Etwa 20 Prozent der Ausgereisten sind Frauen.

Ungefähr ein Drittel der 890 Terrortouristen sind in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Ein Teil ist durch die Kriegserfahrung verroht und besonders gefährlich. Viele Rückkehrer landen deshalb auch in der Gefährderliste. Sicherheitskreise warnen immer wieder vor solchen „Veteranen“, die von der Szene als Helden verehrt werden und die Radikalisierung gerade junger Menschen befeuern. Außerdem scheint die Attraktivität der Salafistenszene trotz des Niedergangs des IS weiter zu steigen.

Welche Terrornetzwerke gibt es?

Im November hat die Polizei eine Gruppierung um den Hassprediger Abu Walaa zerschlagen, die junge Salafisten für den Kampf beim IS agitiert haben soll. Anis Amri soll mit dem Netzwerk in Kontakt gestanden haben. Die Bundesanwaltschaft wirft Abu Walaa und den mit ihm festgenommenen vier mutmaßlichen Komplizen vor, ausreisewillige Salafisten ideologisch aufgeheizt und damit dem IS als Rekruten angedient zu haben. In einem Fall hält es die Behörde auch für bewiesen, dass ein junger Mann vom Netzwerk um Abu Walaa nach Syrien geschleust wurde.

Der härteste Akteur in der Salafistenszene war allerdings der Verein „Die wahre Religion“ (DWR). Mindestens 140 Salafisten sollen die Truppe und ihr Anführer Ibrahim Abou-Nagie zur Ausreise nach Syrien und Irak animiert haben, um für den IS oder eine andere Dschihadistentruppe zu kämpfen. Im November verbot Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) den Verein. Der Schlag habe, sagten Sicherheitskreise, „die sprichwörtliche Spinne im Netz der deutschen Salafistenszene“ getroffen.

Der DWR hatte über massive Propaganda im Internet und auf der Straße junge Menschen angelockt. Bundesweit bekannt wurde der Verein mit seiner „Lies!“-Kampagne. Die Salafisten stellten sich in Fußgängerzonen und verteilten Gratis-Exemplare des Koran. Über die Kampagne wurde offenbar auch die Jungmännertruppe radikalisiert, die im April den Anschlag auf den Sikh-Tempel in Essen verübte. Bei der Explosion wurden drei Menschen verletzt. Bei allen vier Beschuldigten gebe es „eindeutige Hinweise für Verbindungen zur ,Lies!‘-Kampagne“, heißt es in der Verbotsverfügung des Innenministers.

Von den Essener Attentätern führt auch eine Spur zum Netzwerk um Abu Walaa. Einer seiner mutmaßlichen Komplizen, Hasan C., soll sich an der Radikalisierung von zumindest zwei der jungen Salafisten beteiligt haben, die den Sikh-Tempel angriffen. Ob die Nachwuchsterroristen auch mit Anis Amri in Verbindung standen, ist offen. Sicherheitskreise sehen allerdings ein verwobenes Spektrum aus der Abu-Walaa-Gruppe, dem DWR und weiteren Salafisten in mehreren Bundesländern.

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