zum Hauptinhalt
Abschied nehmen. Bei einer Trauerzeremonie gedachte der Türkei am Sonntag der Opfer des Angriffs von Istanbul.

© Sedat Suna/dpa

Nach dem Anschlag in Istanbul: Welche Folgen hat der Terror für die Türkei und Erdogan?

Ein Land im Ausnahmezustand: Der Doppelanschlag in Istanbul mit Dutzenden Toten hat die Türkei schwer getroffen. Der Konflikt mit den Kurden verschärft sich erneut. Eine Analyse.

Für viele türkische Politiker ist die Sache klar: Hinter dem Doppelanschlag von Istanbul steckt die kurdische Rebellengruppe PKK. Und sie schwören Rache. Ihrer Lesart nach soll versucht werden, die gerade begonnene Vorbereitung für die Errichtung eines Präsidialsystems zu sabotieren. Präsident Recep Tayyip Erdogan wiederum nimmt die Gewalttat zum Anlass für neue scharfe Kritik am Westen. Doch er sieht sich auch dem Vorwurf ausgesetzt, seit dem Putschversuch vom Juli das innenpolitische Klima immer weiter verschärft zu haben.

Wie lief die Gewalttat ab?

Die Täter zielten offenbar auf die starke Polizeipräsenz beim Erstligaspiel der Fußballclubs Besiktas gegen Bursaspor. Das Spiel in der neu gebauten Arena am Bosporus-Ufer in Istanbul war vorbei, die meisten Fans waren schon zu Hause, als die Terroristen gegen 22.15 Uhr Ortszeit zuschlugen. Die Gegend im Stadtteil Besiktas zählt zu den wichtigsten Verkehrsknotenpunkten der Innenstadt und liegt in der Nähe des Dolmabahce-Palastes, des zentralen Taksim-Platzes und des Geziparks: Niemand in Istanbul ist sicher, lautete die Botschaft.

In einem offenbar koordinierten Angriff explodierte zunächst eine Autobombe in der Nähe einer Gruppe der Bereitschaftspolizei am Stadion. Rund 45 Sekunden später jagte sich ein Selbstmordattentäter im nahen Macka-Park in die Luft, nachdem er von Polizisten angehalten worden war. Laut Behördenangaben starben 38 Menschen, darunter 30 Polizisten; 166 weitere Opfer wurden verletzt. Die meisten Toten gab es durch die Autobombe, die nach Angaben von Vizepremier Numan Kurtulmus mindestens 300 Kilogramm schwer war. Bis zum Sonntagmittag wurden 13 Tatverdächtige festgenommen.

Wer steckt hinter dem Angriff?

Am Tag nach dem Anschlag bekannten sich die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK), eine Organisation aus dem Umfeld der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), zu der Gewalttat. Solange die Erdogan-Regierung PKK-Gründer Abdullah Öcalan in Haft halte und mit „Folter“ gegen Kurden vorgehe, dürfe die Türkei keine Ruhe erwarten, erklärte die Gruppe auf ihrer Internetseite. Demnach handelte es sich um einen doppelten Selbstmordanschlag der Täter in dem Bombenfahrzeug und im Macka-Park.

Auch Ministerpräsident Binali Yildirim sagte, alles deute auf eine Täterschaft der PKK hin. Friedensgespräche zwischen der Regierung und den Kurden waren im vergangenen Jahr gescheitert. Seit dem Putschversuch vom Juli verstärkt Erdogan den Druck auf die Kurden; die Führungsspitze der legalen Kurdenpartei HDP sitzt im Gefängnis. PKK-Kommandant Cemil Bayik hatte in den vergangenen Monaten angekündigt, seine Kämpfer würden den Krieg in die türkischen Städte tragen, und dabei insbesondere mit Anschlägen gegen Mitglieder der Sicherheitsbehörden gedroht. Regierungstreue türkische Medien meldeten am Sonntag, einer der Täter sei aus dem Herrschaftsgebiet des PKK-Ablegers PYD in Syrien in die Türkei gekommen.

Wie reagieren die Menschen in Istanbul?

Der Anschlag auf die Polizisten am Besiktas-Stadion war der siebte Anschlag in der türkischen Metropole in diesem Jahr. Begonnen hatte die Gewaltserie mit dem Tod von zwölf deutschen Touristen bei einem Selbstmordanschlag vor der Blauen Moschee im Januar. Die neuerliche Bluttat hat bei vielen Istanbulern die Hoffnung zerstört, dass der von Erdogan nach dem Putsch verhängte Ausnahmezustand mit seiner starken Präsenz von Polizei und Militär auf den Straßen zumindest mehr Sicherheit gebracht hat. „Immerhin können wir nun wieder Metro fahren, ohne uns große Sorgen zu machen“, sagte ein Istanbuler Intellektueller nur wenige Tage vor den Explosionen in Besiktas.

Entsprechend groß ist der Schock nach den Ereignissen vom Samstagabend. „Es wird immer schlimmer“, so ein Fotograf. Und er betont: „Ich fühle mich nicht mehr sicher.“ Nach einer Zählung der Online-Plattform Diken sind seit Juni 2015 in der Türkei 372 Menschen bei insgesamt 17 Terroranschlägen ums Leben gekommen. Erdogan-Anhänger forderten bei einer Kundgebung am Tatort am Sonntag eine rasche Wiedereinführung der Todesstrafe für terroristische Gewalttaten.

Was macht die türkische Politik?

Erdogan gibt sich gewohnt kämpferisch. „So weit, dass wir die Plätze in den Städten diesen Schuften überlassen, sind wir noch lange nicht.“ Die Täter würden einen hohen Preis zahlen. Zugleich griff er den Westen erneut scharf an. Schon seit Wochen kritisiert Erdogan immer wieder Deutschland und andere Staaten der Europäischen Union, weil diese angeblich den Mitgliedern der PKK und den Anhängern der von Ankara als Terrortruppe betrachteten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen Unterschlupf gewährten. Nun sagt er, es gebe Länder, die es vorzögen, Extremisten zu unterstützen, statt den Türken im Kampf gegen den Terror zu helfen. Innenminister Süleyman Soylu betont, die vordringlichste Aufgabe der Türkei sei es nun, für den Anschlag Vergeltung zu üben.

Was bedeutet der Anschlag für Erdogan politisch?

Der Angriff ereignete sich wenige Stunden nachdem die Erdogan-Partei AKP und die Rechtsnationalisten-Partei MHP ihren gemeinsamen Vorschlag zur Einführung eines Präsidialsystems ins Parlament eingebracht hatten. Der Entwurf für Verfassungsänderungen sieht weitere Machtbefugnisse für Erdogan vor, der bei Umsetzung des Plans bis 2029 regieren könnte. Das Vorhaben soll im neuen Jahr zuerst vom Parlament gebilligt und im Frühsommer den Wählern in einer Volksabstimmung vorgelegt werden.

MHP-Chef Devlet Bahceli sagte, es könne kein Zufall sein, dass die Bluttat ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt verübt wurde. Erdogan-Anhänger und Meinungsforscher Faruk Acar sagte, der Doppelanschlag von Besiktas sei wie die Gezi-Protestbewegung von 2013 und der Putschversuch vom Juli das Werk von Regierungsfeinden, die Erdogan stürzen wollten. Dagegen warfen einige Erdogan-Gegner in Internetforen der Führung vor, die Gewalttat selbst eingefädelt zu haben, um die türkischen Wähler für das Präsidialsystem zu gewinnen; laut einigen Umfragen sind die meisten Türken bisher gegen die Systemumstellung.

Beweise für diese Vorwürfe gibt es jedoch nicht. Regierungskritiker vermuten, dass Erdogan versuchen wird, die Verunsicherung der Bevölkerung nach der neuen Gewalttat für sich auszunutzen. Der Präsident werde die Ereignisse zum Anlass nehmen, um den derzeit bis Mitte Januar geltenden Ausnahmezustand weiter zu verlängern, schreibt der Erdogan-kritische Journalist Ilhan Tanir auf Twitter.

Zur Startseite