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Nach dem Attentat: Norwegen im Schockzustand

Nach den entsetzlichen Anschlägen in Norwegen sucht das Land nach Antworten auf das Unerklärliche. Und die Angst vor irregeleiteten Nachahmungstätern oder Sympathisanten des Attentäters geht um.

Wie ist die Situation in Norwegens Landeshauptstadt fünf Tage nach den Anschlägen?

Obwohl die Politiker unmittelbar nach den verheerenden Anschlägen vom vergangenen Freitag die Bürger eindringlich dazu aufgerufen hatten, so rasch wie möglich wieder zum normalen Leben zurückzukehren, liegen die Nerven im ganzen Land blank. Ein falscher Bombenalarm führte am Mittwoch kurzzeitig zu Unruhe im Stadtzentrum von Oslo. Dem Busfahrer Jack Vådahl war eine allein stehende Tasche aufgefallen. Das führte zur Evakuierung des gesamten Zentralbahnhofes für eine ganze Stunde. „Er sprach in sein Handy und verschwand dann einfach und ließ die Tasche stehen“, sagte der Busfahrer über den Eigentümer der Tasche. Doch es war ein Missverständnis. Der Mann wollte lediglich einem gebrechlichen Fahrgast mit Gepäck zu Hilfe eilen. Den Osloer Zentralbahnhof passieren jeden Tag rund 150 000 Menschen.

Was weiß man inzwischen über den Polizeieinsatz nach dem Attentat?

In Oslo wächst die Kritik an der Polizei, seit mehrere Betroffene und Angehörige von Opfern der Presse mitgeteilt haben, dass sie am Freitag zu Beginn der Schießerei auf der Fjordinsel die Notrufnummer gewählt hatten und ihnen nicht geglaubt worden sei. Ein Polizeisprecher hatte noch am Montag behauptet, die Notrufe seien unmittelbar ernst genommen worden. Die Polizei hatte ihre etwa 90 Minuten verspätete Ankunft auf der Insel damit erklärt, dass alle Hubschrauberpiloten im Sommer immer geschlossen Urlaub machten und man deshalb auf Autos und Boote angewiesen gewesen sei. Diese Begründung wird heftig kritisiert – einen Hubschrauberpiloten habe es doch in Oslo geben müssen, auch wenn es sich um einen Rettungshubschrauber eines Krankenhauses gehandelt hätte, argumentieren die Kritiker. Norwegens Regierungschef Jens Stoltenberg vermied bislang direkte Kritik an der Polizei.

Wie ist die Einschätzung von Breiviks Verteidiger aufgenommen worden, sein Mandant sei „verrückt“?

Angehörige der Opfer haben diese Aussage reserviert aufgenommen. Viele vermuteten, dass es eine anwaltliche Strategie sei, um dem Täter eine langjährige Haftstrafe zu ersparen. Allerdings schlossen am Mittwoch auch Rechtsexperten nicht aus, dass die Möglichkeit der Schuldunfähigkeit wegen geistiger Verwirrung tatsächlich gegeben sei. Dagegen sagte die Chefin der Sicherheitspolizei PST, Janne Kristiansen, der BBC, es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass Breivik geistig krank sei. Dagegen spreche auch die minuziöse Planung der Anschläge über Jahre hinweg. Zwei Psychiater sind neben Anwalt und Polizisten die einzigen, die derzeit Kontakt zu Breivik haben. Die Polizei zeichnete unterdessen immer mehr das Bild eines Einzeltäters, der in seinem Wahndenken lose Kontakte per e-Mail zu Gleichgesinnten als ein „Netzwerk“ interpretiere. Bislang deute vieles darauf hin, das er tatsächlich alles alleine getan habe, auch wenn er sich über das Internet im Ausland Inspirationen holte.

Was weiß man über die Rolle der Freimaurerloge, der Breivik angehört haben soll?

Auf seiner Facebook-Seite zeigte sich Breivik im schwarzen Anzug und weißer Freimaurer-Schürze. Er war Mitglied der Osloer Freimaurerloge „St. Johanneslogen St. Olaus til de tre Søiler“ und soll der größten norwegischen Boulevardzeitung VG zufolge den dritten von zehn erreichbaren Tugendgraden erreicht haben. Breivik sei sofort nach den Anschlägen aus dem Orden ausgeschlossen worden, erklärte der Großmeister der norwegischen Freimaurer: „Die Werte, die ihn motiviert zu haben scheinen, sind vollständig unvereinbar mit dem, für das wir als Orden stehen.“ Den Templern wird besonders glühender Eifer und Opferbereitschaft nachgesagt, was für Breivik, der sich selbst zum Krieger und Retter von Nation und Abendland stilisiert, attraktiv gewesen sein muss.

Wofür stehen die Freimaurer?

Weltweit gibt es etwa sechs Millionen Freimaurer, in Deutschland sollen es rund 14 000 sein. Sie verpflichten ihre Mitglieder zur Verschwiegenheit, in Deutschland sind sie eingetragene Vereine mit Satzung, Schatzmeister und Mitgliederlisten. Im Zentrum stehen karitative Projekte und die „sittliche Vervollkommnung des Einzelnen“. Die Freimaurer gehen auf die Gemeinschaften der Steinmetze in den mittelalterlichen Dombauhütten zurück. Sie gehörten keiner Zunft an und zogen von Baustelle zu Baustelle. Um den Zusammenhalt zu wahren, gründeten sie ordensähnliche Gemeinschaften, in die im Laufe der Zeit immer mehr Männer mit anderen Berufen eintraten.

1717 gründete sich in England die erste Freimaurer-Loge. Die Logenbrüder fühlen sich seit damals einem Menschenbild verpflichtet, das sich an Toleranz, Friedfertigkeit, Verständigung und gegenseitiger Achtung orientiert, schreibt Matthias Pöhlmann von der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen in der Studie „Verschwiegene Männer“. Seinen abgrundtiefen Hass auf alle Andersdenkenden muss Anders Breivik seinen Mitbrüdern geschickt verschwiegen haben. Der 32-Jährige suchte Verbündete im Kampf gegen den Islam. In den Kirchen fand er sie nicht. Sie würden sich auch noch für die Rechte von Muslimen einsetzen, schrieb er höhnisch. Papst Benedikt XVI. habe das Christentum und die europäischen Christen „im Stich gelassen“.

Auch die Freimaurer verstehen sich nicht als Club zur Rettung des christlichen Abendlandes. In den Logen sitzen heute Atheisten und Christen genauso wie Juden und Muslime. Die Bibel dient lediglich als ethische Grundlage. Debatten über Politik und Religion sind tabu. Das Kämpferische fand Breivik trotzdem bei den Freimaurern, in der Geschichte und im Mythos. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es unter den Logenbrüdern eine einflussreiche Strömung, die die Freimaurerei auf die Tradition des sagenumwobenen Templerordens zurückführen wollte.

Die Tempelritter waren die elitäre Stoßtruppe des Papstes bei den Kreuzzügen im Mittelalter. 1312 löste Papst Clemens V. den Orden auf, er war zu reich und mächtig geworden. Bis heute wird in der Fantasy-Szene und in Dan Browns Thrillern, die Breivik nach seinen eigenen Angaben gelesen hat, darüber spekuliert, ob es Nachfahren gibt. Eine bloß vage Verbindung zu den Templern genügte Anders Breivik offenbar irgendwann nicht mehr. In seinem Manifest schreibt er, dass er 2002 zusammen mit anderen in London den Templerorden neu gegründet habe. Sein Manifest ziert das Templer-Kreuz, unterschrieben hat er das Pamphlet mit „Justiciar Knight Commander, Tempelritter Europa, Tempelritter Norwegen“.

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