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Aktivisten kurz vor der Brexit-Abstimmung.

© AFP

Nach dem Brexit-Votum: Die Briten haben das bessere Gefühl für Europa

Nach dem Brexit-Votum hält die Unruhe bei den Briten sich in Grenzen. Denn anders als die Deutschen sehen sie in der EU nicht die letzte Antwort auf Identitätsfragen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Im Jahr 1981 reiste Kim Philby von Moskau in die DDR, um dort vor einer Reihe von Stasi-Spionen einen Vortrag zu halten. Nach einer kurzen Einleitung von Markus Wolf erklärt Philby mit makellosem Oberschichtakzent, wie er so lange als Doppelagent für die Russen unentdeckt bleiben konnte. „Weil ich in die britische Regierungsklasse hineingeboren wurde, weil ich viele Leute mit großen Einfluss kannte, wusste ich, dass sie mich niemals zu hart angehen würden.“ Fast 30 Jahre lang verriet er Geheimnisse und lieferte Agenten ans Messer, bis er sich 1963 in die Sowjetunion absetzte. Seine Kollegen und Vorgesetzten hatten den Verdacht gegen Philby immer wieder verdrängt.

Das versammelte Stasi-Personal konnte mit seiner Erklärung vermutlich nicht viel anfangen. Die DDR war nicht so klassenlos, wie sie es zu sein vorgab, doch dieses Maß an Loyalität und Geschlossenheit, das lange auf allen Ebenen der britischen Klassengesellschaft geherrscht hat, war aus deutscher Sicht nicht nachvollziehbar. Philby hatte offenbar – zu Recht – das Gefühl, dass jemandem wie ihm nichts passieren kann.

Nach der Brexit-Entscheidung häuften sich die Berichte von jungen Engländern, die sich um ihre Zukunft betrogen fühlen, von Petitionen und Versuchen, die Entscheidung rückgängig zu machen. Als Andy Murray nach seinem Gewinn in Wimbledon in seiner Ansprache ans Publikum den anwesenden Premierminister David Cameron erwähnte, wurde laut gepfiffen. Aber die Unruhe, die der Brexit in Großbritannien ausgelöst hat, hält sich in Grenzen. Er hat das Land nicht existenziell erschüttert.

Die Selbstversicherung der historischen Kontinuität

Anfang des vorherigen Jahrhunderts reiste der deutsche Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff von Berlin nach Oxford, um dort einen Vortrag zu halten. In seinen Erinnerungen schreibt er über den Besuch an der Universität: „Fremdartig war das Meiste, vieles nachahmenswert; aber ich begriff auch, daß man sich scheut, altererbte Formen aufzugeben; auch Perücken gehören zu dem grandiosen Stil. Die Deutschen kommen sich heute recht fortgeschritten vor, wenn sie alle solche Traditionen zerstören.“ Es entstand bei Wilamowitz der Eindruck „eines Landes, das keinen Dreißigjährigen Krieg und keine französischen Raubzüge gekannt hat“ und eines Volkes mit einem „selbstbewussten Fühlen“. Schon damals, vor den beiden Weltkriegen, erschien dem Besucher aus Deutschland das Land überraschend unerschüttert.

Dazu trägt vermutlich auch die Insellage bei und die Selbstversicherung in der historischen Kontinuität eines Königshauses. In Deutschland hinterließ dagegen „eine fast lautlose Implosion des gesamten monarchischen Systems“ nicht nur „ein abgedanktes Kaiserhaus, sondern einen wahren Dynastienfriedhof“. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich schnell die Erkenntnis durch, auch bei den Betroffenen selbst, „dass der hochadelige Herrscherstand des Deutschen Kaiserreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts weder personell noch intellektuell irgendetwas im Angebot hatte, was der politischen Geschichte Deutschlands noch hätte zum Wohl gereichen können“, schreibt Lothar Machtan in „Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen“, das gerade bei dtv neu erschienen ist. Obwohl das Bedrohungspotenzial für die herrschenden Häuser nicht einmal dramatisch war, vollzogen sie eine „freiwillige Anpassung an die unaufhaltsame Modernisierung von Staat und Gesellschaft“. Und die bestand in der Abdankung, in der, wie Machtan schreibt, „behutsamen Selbstbeschränkung“.

Die Europäer sind unterschiedlicher als vom politischen Europa angenommen

Deutschland hat im klassischen Sinn keine Klassengesellschaft mehr, ist immer wieder erschüttert worden und hat sich selbst seiner historischen Kontinuität beraubt. Die Deutschen sind dafür zuletzt aufgestiegen, die Briten sind zuletzt abgestiegen – aber auch das ohne große Erschütterung, wie der englische Schriftsteller Martin Amis gerade im „Zeit“-Interview betont hat: England „hat nach dem Zweiten Weltkrieg sehr rasch seinen Weltmachtstatus verloren, und die Engländer haben das mehr oder weniger lakonisch ertragen. England wurde eine zweitklassiges Land, und das ohne großes Gebrüll, Gekicke, Theater“.

Natürlich blicken solche Briten ganz anders auf die Europäische Union als die Deutschen, die darin die endgültige Antwort auf alle ihre Identitätsfragen sehen. Doch jedes Land steht mit seiner Geschichte allein. Und deshalb ist es genauso natürlich, dass auch die Polen und die Ungarn anders auf die Europäische Union blicken als die Deutschen. Die Länder Europas haben eine eigene Mentalitätsgeschichte, die sie prägt, und die weit über das 20. Jahrhundert zurückreicht. Der Dreißigjährige Krieg zum Beispiel ist möglicherweise wirkmächtiger als die Politik des 20. Jahrhunderts sich das vorstellen konnte.

Das ideologische Fundament der Europäischen Union ist die Stunde null nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch wie sich zeigt, ist das als europäische Schnittmenge zu klein, der Blick auf die Welt noch immer zu unterschiedlich. Der Brexit, und darin liegt seine entscheidende Lehre, dokumentiert, dass die Europäer mentalitätsgeschichtlich unterschiedlicher sind als das politische Europa stets angenommen hat; und dass Europa nur funktionieren kann, wenn es diese Unterschiede nicht aus ideologischen Gründen ignoriert.  

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