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Nach dem EU-Gipfel: Cameron zwischen den Stühlen: Welchen Weg geht nun das Land?

Der britische Premier hat mit seinem Nein zur Änderung der EU-Verträge alte antieuropäische Reflexe auf der Insel wiederbelebt - und polarisiert.

Es ist selten, dass ein britischer Premier so bejubelt wird, wenn er von einem Brüssler Gipfeltreffen ins Unterhaus zurückkehrt, wie am Montag David Cameron. Tory-Parlamentarier waren aus dem Häuschen, jubelten und winkten mit ihren Tagesordnungen. Dabei hatten die Tory-Chefs alle triumphierenden Äußerungen verboten – aus Achtung für den liberaldemokratischen Koalitionspartner. Die saßen stumm vor Wut auf ihren Bänken.

Wie rechtfertigte Cameron im Unterhaus seine Strategie von Brüssel?

Der britische Premier verteidigte die Entscheidung nun damit, dass ihm angesichts der harten Haltung der Partner nichts anderes übrig geblieben sei. „Wir kamen nach Brüssel, um eine Einigung auf der Ebene der gesamten Europäischen Union zu erzielen, mit den notwendigen Garantien für Großbritannien. Diese Forderungen waren bescheiden, vernünftig und wichtig. Wir versuchten nicht, unfaire Vorteile für Großbritannien herauszuschlagen.“ Er habe „in gutem Glauben“ verhandelt, betonte er. Damit reagierte er direkt auf den Vorwurf von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ihm nach dem Gipfel vorgeworfen hatte, er habe nicht den Eindruck gemacht, „an den Verhandlungen wirklich beteiligt zu sein”.

Wer kritisiert Cameron und warum?

Kritik schallt Cameron nicht nur vom Kontinent entgegen, wo die Reaktionen vor allem in Frankreich und Deutschland besonders scharf waren. Massive Kritik gibt es auch in Großbritannien selbst. Cameron hat mit dem Veto den alten, tiefen Graben mitten durch die Europa-Politik wieder aufgerissen, der immer nur notdürftig gekittet war: zwischen denen, die das europäische Projekt mit dem britischen Verständnis von Selbstbestimmung, Demokratie, Souveränität, Flexibilität und weltweiter Offenheit für unvereinbar halten, und denen, die aus Pragmatismus und Realitätssinn für den Verbleib am europäischen Verhandlungstisch kämpfen. Letztere Fraktion meldet sich nun mit massiver Kritik an Camerons Politik des „leeren Stuhls“ – Stimmen aus der Wirtschaft, aus Schottland und anderen Teilautonomen Regionen, aus der City, der Labourpartei und vor allem aus den Reihen von Camerons Koalitionspartner, den Liberaldemokraten.

Viele von ihnen hätten ihn auch kritisiert, wenn er der Revision der bestehenden EU-Verträge ohne zu Hause verkäufliche Zugeständnisse zugestimmt hätte. Cameron verhinderte die Änderung der Verträge, aber nicht die Stabilitätsunion der Rest-EU, die nun in einem neuen Vertragswerk neben den EU-Strukturen umgesetzt wird. Garantien für britische Mitsprache im Binnenmarkt und zum Schutz der City brachte Cameron nicht mit.

„Er ist der erste Premier, der sein Veto einsetzte, um nichts zu verhindern”, lästerte der frühere Labour-Außenminister David Miliband in der BBC. Koalitionspartner Nick Clegg warf Cameron ein „miserables Verhandlungsergebnis“ vor, das Großbritannien zum internationalen „Zwerg“ mache. Nicht nur in der EU werde der britische Einfluss schwinden. „Ohne Einfluss in der EU sind wir auch für die Vereinigten Staaten uninteressant“. Der schottischer Ministerpräsident Alex Salmond schrieb empört, Cameron habe mit seinem Veto Schottland „aus dem Verhandlungszimmer ausgeschlossen“ und ohne jede Rücksprache mit den teilautonomen Landesteilen Wales, Nordirland und Schottland die Beziehung des Vereinigten Königreichs zur EU verändert. Ängste hat auch die britische Wirtschaft. Der Chef des Wirtschaftsverbandes CBI, John Cridland, warnte: „Britische Unternehmen wollen, dass die Koalition sich darauf konzentriert, den Einfluss auf den Binnenmarkt zu behalten und auszubauen. Tausende Jobs hängen davon ab.“

Unterstützung für Cameron, Isolation von der EU

Wer unterstützt Camerons Haltung?

Cameron hat die klare Unterstützung seiner Partei, die zu 80 Prozent aus moderaten bis heftigen Euro-Skeptikern besteht. Die 81 Hinterbänkler, die ihn zwei Wochen vor dem Gipfel mit einer Forderung nach einem EU-Referendum unter Druck setzten, feiern ihn als Helden – ein Stimmenblock, der Cameron und die Koalition stürzen könnte und größer ist als die Koalitionspartner. „Nie war er als Premier so stark“, schreiben Kommentatoren quer durch die rechte britische Presse. Nach einer am Montag in der „Times“ veröffentlichten Umfrage halten 57 Prozent Camerons Veto für richtig, obwohl fast die gleiche Zahl zugibt, dass es den britischen Einfluss in der EU verringern könnte. Nur 24 Prozent glauben, dass es negative Auswirkungen auf die britische Wirtschaft hat.

Paradoxerweise hat Cameron auch die Unterstützung der Koalitionspartner, die ihn nun kritisieren: „Die Koalition wird nicht auseinanderbrechen“, betonte Cleggs engster Mitarbeiter in der Koalition, Schatzamtsminister Danny Alexander. Das hat damit zu tun, dass die Liberaldemokraten in Umfragen sogar von der radikalen antieuropäischen UKIP überholt wurden und Neuwahlen fürchten.

Wie isoliert sieht sich Großbritannien jetzt von Europa?

Abgesehen davon, dass umstritten ist, wie tief der Bruch überhaupt geht, hängt das davon ab, wie man die Beziehungen einschätzt. Vivianne Reding, Vizepräsidentin der EU-Kommission, sagte, „Die Briten brauchen uns mehr als wir die Briten.“ Aber britische Beobachter machen diese Rechnung andersherum auf: Im rechten Spektrum der Tory-Partei träumen viele von einem wirtschaftlichen Freibeuter Großbritannien, das der EU als schwach regulierte Off-Shore-Ökonomie Konkurrenz macht. Hongkong, die Schweiz, Norwegen, Kanada, sogar die Türkei werden als erfolgreiche, unabhängige Volkswirtschaften genannt. Schon vor der Eurozonen-Krise sahen viele Ökonomen in der EU immer weniger einen globalen Spieler, sondern einen reformschwachen Block mit protektionistischen Tendenzen, der immer mehr Einfluss in der globalen Wirtschaft verliert. Nüchternere Stimmen verweisen auf die britische Außenhandelsbilanz: „Wir sind die Kunden der EU, sie brauchen uns mehr als wir sie“, argumentiert der Tory-Rechte John Redwood.

Wie wahrscheinlich ist es, dass London Vertragsänderungen doch noch zustimmt?

Das hängt vom weiteren Verlauf der Debatte ab: In der Koalition wird bereits darüber gestritten, wie aggressiv Cameron die juristische Karte ausspielen darf. Da die neue Stabilitätsunion nach Camerons Veto außerhalb der EU stattfinden muss, könnten die Briten ihr nicht nur die bestehenden Institutionen wie den Europäischen Gerichtshof oder die EU-Kommission verweigern, die in dem unterzeichneten neuen Europavertrag als Aufsichtsgremien genannt werden – streng genommen könnte Cameron ihr sogar die Nutzung von Gebäuden, EU-Personal, Reise-Etats und Büroklammern verwehren. Da sind weitere Kompromisse notwendig. Viele in Großbritannien glauben, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. „Wir sind offen“, sagte Libdem Danny Alexander am Montag.

Könnte es am Ende zu einem Austritt Großbritanniens aus der EU kommen?

Darauf hofft Umfragen zufolge fast die Hälfte der Briten, 70 Prozent wollen wenigstens ein Referendum. Es ist gut möglich, dass Premier Cameron seine Partei zufriedenstellt und sich Luft für den Rest der Legislaturperiode verschafft, indem er ein Referendum in das nächste Wahlprogramm schreiben lässt. Die Briten würden in Ruhe abwarten, wie sich die Eurozone entwickelt. Wenn sie sich, mit mehr oder weniger Demokratie, zum Staat zusammenschließt, werden sie Nein sagen und austreten. Bricht sie wegen des Protests mancher Länder gegen das deutsch-französische Spardiktat auseinander, kommt die Situation in Fluss und die Briten würden wieder an Einfluss gewinnen. Letztlich haben aber die europäischen Machtspieler Deutschland und Frankreich es in der Hand, die Briten hinauszuwerfen oder ihnen in der Union den Sonderplatz einzuräumen, den sie mit ihrer Europa vorgelagerten eigenen Geschichte brauchen.

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