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Nach dem Freispruch: Der serbische Nationalistenführer Vojslav Seselj während einer Pressekonferenz am Donnerstag

© imago/Pixsell

Nach dem Freispruch für Serbenführer Seselj: "Die Richter haben das Recht diesmal anders angewandt"

Thomas Verfuss berichtet seit 22 Jahren vom Jugoslawien-Tribunal in Den Haag. Den Freispruch für Vojslav Seselj hält er nicht für das letzte Wort im Prozess.

Einer der schlimmsten Hetzer im Balkankrieg ist nach 11 Jahren Untersuchungshaft in allen Punkten freigesprochen worden, das Gericht und viele Prozessbeoachter warfen der Anklage ungewöhnlich deutlich schlechte Arbeit vor – ist das UN-Tribunal im Verfahren gegen Vojslav Seselj gescheitert? 

Ich weiß nicht, ob wirklich die Anklage schlecht vorbereitet war. Das wird sich im Berufsverfahren erweisen. Es waren die Richter, die diesmal das Recht anders angewandt und interpretiert haben als in früheren Fällen, die seinerzeit von der Berufungskammer auch bestätigt wurden. Im Fall Seselj ist das abweichende Votum der italienischen Richterin Lattanzi fast interessanter als das Urteil selbst. 

Der Journalist Thomas Verfuss hat die Prozesse vor dem Jugoslawien-Tribunal im Haag von Anfang an begleitet.
Der Journalist Thomas Verfuss hat die Prozesse vor dem Jugoslawien-Tribunal im Haag von Anfang an begleitet.

© promo

Was war diesmal anders?

In vielen nationalen Rechtssystemen gibt es die Bandentheorie: Wer etwa bei einem Raubüberfall Schmiere steht, ist Teil der kriminellen Vereinigung und wird genauso verurteilt. Das hat das UN-Tribunal in den letzten 20 Jahren sehr weitgehend übernommen – diesmal nicht. Und es hat diesmal auch nicht berücksichtigt, dass Zeugen eingeschüchtert wurden. Auch dass viele von Seseljs Taten nicht als Verbrechen gegen die Menschheit eingestuft wurden, weicht von der bisherigen Rechtsprechung des Tribunals ab. Wenn Journalisten schreiben, ein Verfahren sei schlecht vorbereitet worden, dann urteilen sie meist über das, was im Saal passiert. Es lohnt aber auch, sich die Vorgeschichte der Verhandlung anzusehen.

Sie rechnen also mit einer Verurteilung Seseljs im Berufungsverfahren?

Wir sind von der Haager Berufungskammer schon oft überrascht worden, insofern wage ich nichts vorauszusagen. Es würde mich aber überhaupt nicht überraschen, einfach weil das Recht so ganz anders angewandt wurde als in früheren Fällen, die die Berufungskammer dann bestätigte.

Welchen Sinn hat das Jugoslawien-Tribunal nach zwei Jahrzehnten Arbeit überhaupt noch?

Es stehen neben der Berufungsverhandlung gegen Vojslav Seselj noch die Urteile gegen Radovan Karadzic und Ratko Mladic aus, zwei große Symbolfiguren des Balkankrieges. Gegen den in Deutschland weniger bekannten Goran Hadzic wird es wohl keines geben, er ist todkrank und nicht mehr verhandlungsfähig. Mladic aber ist nicht einmal in erster Instanz verurteilt. Wie diese Prozesse ausgehen, ist wichtig für den Balkan. Ebenso wichtig ist, dass  versöhnungsbereite Politiker und NGOs sie dort erklären, wo ethnische Gemeinschaften unterschiedlichste Sichten auf ihre Geschichte haben und sie von Generation zu Generation weitertragen. Und wo die nationalistische Karte leicht gezogen wird und sticht. Der Freispruch für Seselj dürfte die serbischen Nationalisten erneut beflügeln.

Was halten Sie für die größte Hürde der Rechtsprechung in Den Haag?

Das UN-Tribunal hat keine eigene Polizei. Es ist immer abhängig vom Druck auf Staaten, damit sie ihm Beweismittel zur Verfügung stellen und Verdächtige ausliefern.

Hat sich der Aufwand von über 20 Jahren überhaupt gelohnt?

Wie will man das messen? Dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zum Beispiel wird immer vorgeworfen, dass er bisher mehr als eine  Milliarde Euro gekostet und nur zwei Verurteilte produziert hat. Auch wenn der Seselj-Prozess womöglich Anlass gibt, an der Funktionstüchtigkeit des Jugoslawien-Tribunals zu zweifeln: Es gab auch andere Freisprüche und gerade die beweisen, dass das Tribunal ehrliche Prozesse organisiert. Das ist aus meiner Sicht das Kriterium für seinen Erfolg.

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