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Viktor Orban.

© AFP

Nach dem Referendum in Ungarn: Dies sind Schicksalsjahre für Europa

Es genügt nicht, sich über die Gegner der EU oder der offenen Gesellschaft zu empören und darauf zu hoffen, dass die gewählten Gremien es richten werden. Man muss aktiv werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

So weit ist es mit Europa gekommen. Auf signifikante Schritte in Richtung Einheit darf man derzeit nicht hoffen. Man ist schon dankbar, wenn der nächste Schaden ausbleibt. Die ungarische Volksabstimmung gegen die Verteilung von Flüchtlingen in der EU ist an der geringen Beteiligung gescheitert. So blieb der EU die dritte Referendumsniederlage 2016 erspart; die Niederländer hatten im Frühjahr gegen die Assoziierung der Ukraine gestimmt, die Briten im Sommer für den Brexit.

Der Trost ist freilich begrenzt. Der Versuch des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn, den Ausgang als Widerstandsakt gegen Premier Viktor Orban und seine integrationsfeindliche Haltung zu deuten, ist mehr als kühn. Die Ungarn sind nicht zu Hunderttausenden mit Europaflaggen auf die Straßen gegangen, um ein Zeichen zu setzen – wie das Polens Opposition gelegentlich tut, um aller Welt zu demonstrieren, dass das Volk keineswegs geschlossen den nationalistischen Kurs stützt.

Auch an diesem Wochenende demonstrierten die Polen gegen die Wende rückwärts, in diesem Fall die geplante Verschärfung des Abtreibungsrechts. Für Montag hatten Frauen zum Generalstreik aufgerufen.

Die Passivität der Ungarn hingegen kann ebenso gut Zustimmung zu Orban ausdrücken. Der wollte seine Flüchtlingspolitik nur dann ändern, wenn eine Mehrheit dagegen stimmt. Wäre dies eine Parlamentswahl, hätten die rund 40 Prozent Teilnahme bei nahezu 100 Prozent Zustimmung gereicht, um Orban erneut die absolute Mehrheit zu garantieren.

Das ist die eigentliche Lehre für Europäer in diesen Zeiten. Es genügt nicht, sich über die Gegner der EU oder der offenen Gesellschaft zu empören und darauf zu hoffen, dass die gewählten Gremien es schon richten werden. Demokratie ist kein Zuschauersport, ebensowenig ist es Europas Integration. Ihre Anhänger müssen vielmehr aktiv Partei ergreifen.

Ein Minimum an gegenseitigem Respekt

Die Ära der fortschreitenden Integration ist vorerst beendet: Binnenmarkt, Reisefreiheit, gemeinsame Währung. Der Trend geht in Richtung Behauptung der Nationalstaaten und ihrer Zuständigkeit. Vielerorts will die Mehrheit Kompetenzen an die nationalen Regierungen zurück übertragen. Wann immer es Volksabstimmungen gab, stimmten die Bürger in einem oder mehreren Ländern gegen die Vertiefung: die Verfassung, den Euro und die Briten sogar gegen den Binnenmarkt.

Dies sind Schicksalsjahre für Europa. Womöglich stärken Niederländer und Franzosen 2018 die Anti-EU-Kräfte. Europa würde dann weiter erodieren. In dieser prekären Entwicklung kommt es darauf an, dass die Europa-Befürworter die Zuschauertribüne verlassen und sich Gehör verschaffen, zugleich aber Realisten bleiben und nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen. Auch sie müssen der Versuchung widerstehen, europäische Regelungen zu unterlaufen, sobald ihnen eine Entwicklung nicht passt.

In der öffentlichen Debatte herrscht offenkundig Verwirrung, was in europäische und was in nationale Zuständigkeit fällt. Selbst da, wo es bindende Vorgaben gibt, setzt die EU diese nicht durch, zum Beispiel die Stabilitätskriterien des Euro oder die Vorgaben des Dublin-Abkommens, welches Land Flüchtlinge registrieren und ihre Aufnahmeanträge bearbeiten soll.

Umgekehrt fordern Wohlmeinende in Bereichen, die nach heutigem Recht in die Kompetenz der Nationalstaaten fallen, dass die EU bestimmte Lösungen erzwingen solle, etwa bei der Grenzsicherung und der Entscheidung, welche Ausländer aufgenommen werden oder nicht. Auch das unterminiert Glaubwürdigkeit und Legitimität. Und ebenso, wenn Bürger die Zuständigkeit der EU, zum Beispiel für Handelsverträge, nicht akzeptieren, wenn ihnen ein Abkommen wie Ceta oder TTIP nicht gefällt.

Europa kann nur bei einem Minimum an gegenseitigem Respekt funktionieren: Respekt vor den Zuständigkeiten der EU wie der Nationalstaaten. Wer zu wenig EU will, schadet Europa. Wer zu viel will, auch.

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