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Ein Gespenst geht um: Neuwahlen.

© imago/Christian Ohde

Nach dem Scheitern von Jamaika: Keine Angst vor Neuwahlen!

Wählen zu dürfen, ist keine Zumutung. Schwieriger als jetzt kann die Regierungsbildung kaum werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es stimmt ja alles: Neuwahlen wären eine Bankrotterklärung der Parteien, ein Zeichen ihrer Unfähigkeit, aus einem demokratisch erzielten Ergebnis eine Koalitions-Regierung zu formen, ein Symbol jener ideologischen Trotzköpfigkeit, die verdammt leichtfertig über Kompromissnotwendigkeit triumphiert, das Resultat von zu viel Schiss in der Hose vor der Übernahme von politischer Verantwortung, Neuwahlen wären teuer, und sie könnten zu einem ähnlichen Ergebnis führen wie die vorherigen Wahlen. Da capo al fine.

Und trotzdem: Keine Angst vor Neuwahlen! Zunächst einmal ist wählen zu dürfen weder eine Schande noch eine Zumutung oder gar Strafe. Es ist ein Privileg, um das die Bürger in demokratisch verfassten Staaten von der Mehrheit derer beneidet werden, die unter Diktatur und Willkürherrschaft leiden. Derartige Neuwahlen wären zwar ein Novum in der bundesdeutschen Geschichte, aber eines, das durchaus regelkonform ist.

Bis dahin wird Deutschland kommissarisch regiert, es gibt eine geschäftsführende Kanzlerin und ein geschäftsführendes Kabinett, der Laden läuft. In einer Zeit, in der das Land fast Vollbeschäftigung hat, die Steuereinnahmen sprudeln und der Export brummt, kommt es auf ein paar Monate früher oder später nicht an. Emmanuel Macron mag ein wenig unruhig sein, aber auch die Europäische Union hat schon weitaus tiefere Krisen überstanden als diese.

Die USA, eine Weltmacht, sind in Wahljahren oft ein ganzes Jahr lang politisch blockiert. Etwas Geduld und Improvisationstalent könnten die stabilitätsverwöhnten Deutschen mal aufbringen.

Der Wähler ist in den trist-trüben Wochen erkenntnisreicher geworden

Entscheidend indes ist etwas anderes. Neuwahlen, so sie denn kommen, finden unter sehr veränderten Vorzeichen als die vorherigen Bundestagswahlen statt. Es geht in ihnen nicht mehr allein um parteipolitische Präferenz, sondern vor allem auch um Tugenden wie Verantwortungsübernahme, Kompromiss- und Regierungsfähigkeit.

In diesen Punkten ist der Wähler in den vergangenen trist-trüben Wochen erkenntnisreicher geworden. Er weiß jetzt, auf wen er setzen muss, um die Chance zu erhöhen, dass zumindest regiert wird. Und er weiß, welche Parteien, wenn’s zum Schwur kommt, lieber kneifen und dies frecherweise als Charakterstärke tarnen.

Im Wahlkampf stünden sich folglich zwei Haltungen gegenüber: Gestaltungswille, verbunden mit Kompromissfähigkeit versus ideologische Nabelschau, verbunden mit Hasenfüßigkeit. Man könnte auch sagen: politische Reife versus politisches Pubertätsgehabe.

Der letzte Wahlkampf war relativ themen- und spannungsarm. Der nächste dürfte temperamentvoller werden. Er wird auch kreisen um die selbstbezogene Verweigerungspose von FDP und SPD. Noch stehen nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung verlässliche Umfrageergebnisse zu den Parteienpräferenzen aus. Es wäre ein Wunder, wenn trotz dieser Erschütterung alles beim Alten bliebe.

Neuwahlen könnten notwendig sein. Keine Angst davor! Schwieriger als jetzt kann die Regierungsbildung allerdings kaum werden.

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