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Die Piraten: Andreas Baum (links), Marina Weisband (Mitte) and Sebastian Nerz.

© Reuters

Update

Nach dem Scheitern von Rot-Grün: Piraten wollen über Regierungsbeteiligung verhandeln

Die Piraten inszenieren sich als sozialliberale Grundrechtspartei. Nun wollen sie sogar Sondierungsgespräche - und Klaus Wowereit hält Rot-rot-orange für "interessant".

Auf der neuen Bühne fühlen sie sich sichtlich wohl. Andreas Baum, der Berliner Fraktionschef, sitzt wie selbstverständlich auf dem Podium der Bundespressekonferenz. Es ist Mittwochvormittag, der Saal ist gut gefüllt, die Neugierde ist groß. Baum hat ein breites Lächeln im Gesicht. Die Piratenpartei ist angekommen im großen Politikbetrieb. So scheint es jedenfalls. Gemeinsam mit dem Bundesvorsitzenden Sebastian Nerz und der politischen Geschäftsführerin Marina Weisband posiert Baum für Fotos. Es gibt Blumen. Die drei Piraten sind gekommen, um ihr bundespolitisches Programm vorzustellen. Nach dem überraschenden Erfolg bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, bei denen die Piraten neun Prozent der Stimmen erhielten, sind auch die Ambitionen der Parteimitglieder schnell gewachsen. Meinungsforscher sehen die Piraten auf Bundesebene aktuell bei acht Prozent. Das Potenzial, verkündet Nerz, liege sogar bei 17 Prozent.

Am Nachmittag der nächste Termin für Andreas Baum: Es tagt eine Fraktionssitzung, spontan einberufen nach dem Scheitern von Rot-Grün - und die Abgeordneten wollen öffentliche Sondierungsgespräche mit den anderen Parteien. Dazu beauftragt die Fraktion mit großer Mehrheit den Landesvorstand. "Den Bürgern eine rot-schwarze Regierung als einzig mögliche Regierungsmehrheit zu präsentieren, ist nicht die ganze Wahrheit", hieß es. Der Fraktionsvorsitzende Baum sagt: "Wir sind im Abgeordnetenhaus angekommen. Jetzt müssen wir den anderen Parteien klarmachen, dass wir eine Fraktion sind, mit der sich unterhalten werden kann.“

Einige der Neugewählten äußerten auch Zweifel, ob es für die Piraten nicht zu früh wäre zu regieren. Die Mehrheit aber beschließt: Geht es nach den Piraten, wird sondiert. Beim Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit stößt diese Idee zumindest nicht direkt auf Ablehnung: Wowereit hat eine eventuelle Koalition zwischen SPD, Linken und Piraten am Mittwochnachmittag als eine „interessante Variante“ bezeichnet - sich aber noch nicht ausführlich zu dem Thema geäußert.

Das Selbstbewusstsein ist also groß bei den Piraten, und die Umfragewerte bringen Rückenwind. Die Piraten haben sich nichts Geringeres auf die Fahnen geschrieben, als den Berliner Politikbetrieb von Grund auf zu ändern, und wenn es geht, den bundespolitischen bald noch mit. An den Zielen Transparenz und Teilhabe wollen sie sich messen lassen und Druck auf die anderen Parteien ausüben. „Wir bieten kein Programm, sondern ein Betriebssystem“, sagt Weisband bei der Pressekonferenz am Vormittag.
Das digitale Vokabular ist fest verankert im Wortschatz der Piraten. Auf Internetpolitik allein wollen sie sich längst nicht reduzieren lassen. „Wir sind keine Netzpartei“, sagt Nerz mit Nachdruck. Denn was im Sommer 2009 als Opposition gegen die Debatte um Internetsperren begann, hat sich im Selbstbild zu einer Bürgerrechtsbewegung entwickelt. Nerz verkündet die Botschaft: „Wir sind eine sozialliberale Grundrechtspartei.“

Lesen Sie auf Seite 2, was die Piraten bei der Pressekonferenz noch über ihre konkreten politischen Inhalte verraten haben - und wo sie Antworten schuldig blieben.

Immer dann, wenn es um konkrete politische Inhalte geht, ist auf dem Podium eine gewisse Verunsicherung zu spüren. Wer beantwortet die Fragen nach sozialpolitischen Konzepten und deren Finanzierung? Welche Position bezieht die Partei in der Debatte um den Eurorettungsschirm oder den Krieg in Afghanistan? Sebastian Nerz schaut fragend zu seinen Nachbarn. Im Saal herrscht für einige Sekunden gespannte Stille. Am liebsten, so scheint es, würde Nerz jetzt mit den Schultern zucken. „Wir haben noch keine Lösung.“ Diesen Satz sagt Nerz nicht nur einmal. „Muss eine Partei, die im Bundestag vertreten ist, Antworten auf alle Fragen liefern“, fragt er in den Raum, und schiebt schnell nach: „Ich glaube nicht.“

Den Piraten geht es weniger um Inhalte, als viel mehr um einen innovativen Politikstil. Im Internet experimentieren sie mit neuen Möglichkeiten zur Meinungsbildung. Die Piraten sind über Plattformen wie Facebook oder Twitter vernetzt. Ihre Parteisitzungen sind etwa als Videos im Internet einsehbar. Die Piraten führen Onlineumfragen durch, nutzen freie Software wie das selbst entwickelte „Liquid Feedback“. Etwa 3700 der aktuell gut 14000 Mitglieder diskutieren auf der Onlineplattform über Anträge, die für jeden öffentlich einsehbar sind.

Die Meinungsbildung erfolgt bei den Piraten frei nach dem Prinzip Wikipedia: Es setzen sich jene Positionen durch, die bei den anderen Nutzern auf eine Mehrheit stoßen. Permanent kommen neue Meinungen hinzu, die Nutzer korrigieren sich gegenseitig. Am Ende steht der basisdemokratisch ermittelte politische Wille so besagt es zumindest die Theorie, die die Piraten „liquide Demokratie“ nennen. Die Nutzer sollen das Programm schrittweise vervollständigen.

„Die Beteiligung setzt Wissen und Bildung voraus“, sagt Weisband. Dass die Beteiligung noch ausbaufähig ist und die Diskussionsprozesse nicht immer effizient verlaufen, ist ihr bewusst. „Jemand, der kein Digital Native ist, findet sich bei uns schwer zurecht.“ Deshalb gehen die Piraten im Wahlkampf auch auf die Straße. Weniger internetaffine Menschen sollen durch Stammtische angesprochen werden. „Wir dürfen diese Menschen nicht abhängen“, sagt Nerz.

Bleiben der Einzug in das Berliner Abgeordnetenhaus und die beflügelten Umfragewerte keine politischen Momentaufnahmen, könnten die Piraten die Parteienlandschaft der Berliner Republik aufmischen. In Umfragen hatte noch bis vor kurzem Rot-Grün im bundesweiten Trend vorne gelegen der Einzug der Piraten in den Reichstag 2013 würde die traditionellen Mehrheiten strukturell erschweren. Aber das ist für Nerz noch weit weg. „Die Koalitionsfrage stellt sich aktuell nicht.“ Vor Regierungsverantwortung schreckt die Parteiführung jedoch keineswegs zurück. Ja, Nerz könne sich vorstellen, in Koalitionsverhandlungen zu treten.

Lediglich zwei Jahre ist es her, dass die FDP bei Bundestagswahlen das beste Ergebnis ihrer Geschichte einfuhr. Heute ist die Partei am Boden. Die Piraten könnten den Freien Demokraten nachfolgen. Sie geben sich liberal, aber wollen mit der FDP nichts zu tun haben. Neben den stärkeren Akzenten auf Netz- und Sozialpolitik unterscheiden sich die Piraten vor allem durch ihren Habitus von den Liberalen. Die Partei gibt sich frisch und unkonventionell, ähnlich wie die Grünen vor 35 Jahren. In Berlin vermochten es die Piraten, aus Protest und allgemeiner Unzufriedenheit Wählerstimmen zu generieren. Ob das auf Bundesebene auch gelingen kann, muss sich zeigen.

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