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Tsunamia

© Ingrid Müller

Nach dem Tsunami: Baby statt Unterricht

Warum May ihre Chance nach dem Tsunami nicht genutzt hat – und wie sich die Schule eines deutschen Reeders entwickelt.

Die junge Frau strahlt. Selig hält May ein winziges Bündel im Arm. Der kleine Guitar ist gerade mal acht Tage alt, Anfang Dezember geboren. Vater Ou beugt sich fürsorglich über den Knirps und seine Frau, als er mittags heimkommt.

Eine glückliche Familie?

May, Ou und Guitar sind Seenomaden, sie leben eine halbe Autostunde von Khao Lak in Thailand. Auch ihr Schicksal ist mit dem Tsunami verquickt, der am zweiten Weihnachtstag 2004 die Welt erschütterte, als er rund um den Indischen Ozean 230 000 Menschen tötete. Eine nie gekannte Welle der Hilfsbereitschaft folgte. Die 16-jährige May ist ein Beispiel dafür, wie schwer es sein kann, zu helfen.

May verlor damals in Khao Lak ihre Großmutter. Den Eltern, ehemals Fischer, nahm die Wasserwand ihre Ausrüstung. Viel zum Leben hatten die als Außenseiter geltenden Moken (Seenomaden) schon vorher nicht gehabt. Doch für May tat sich ein Fenster auf: Sie wurde im Herbst 2006 als eins von rund 120 Kindern in der Beluga School for Life in Na Nai rund 15 Kilometer landeinwärts aufgenommen – das Projekt hatte der Eigner der Bremer Reederei Beluga, Niels Stolberg, zusammen mit seiner Frau Ladan ins Leben gerufen. Stolberg stellte sicher, dass das Schulprojekt für zehn Jahre finanziert ist, danach soll es sich selbst tragen. An ihrer Seite: der Berliner Erziehungswissenschaftler Jürgen Zimmer. Lehrer und Projektleiter setzten große Hoffnungen in die aufgeweckte May.

In der Schule wohnte May mit einer Handvoll anderer Kinder und einer Lehrerin in einem Haus zusammen. Beluga will ihnen mit unkonventionellen Ansätzen nicht nur Mathe und Englisch mit auf den Weg geben, sondern auch praktische Dinge, die ihren Lebensunterhalt sichern können: Massage, Tanz, organische Landwirtschaft, Hotellerie, Unternehmertum.

Nach ein paar Monaten kam ein Brief von May. Sie sei unglücklich gewesen, habe deshalb die Schule verlassen. Danach: Funkstille. Nun ein Besuch in Na Nai zum fünften Jahrestag des Desasters. Die Trennung war auch für Schulleiter Jörg Thiemann schmerzlich. Der Kontakt ist abgebrochen. Er hätte das Mädchen gern gehalten. Aber eines Tages habe May mit ihrer Mutter in seinem Büro gesessen; auch die Mutter wollte, dass May bleibt. „Aber sie sagte, sie könne sich nicht gegen den Willen ihrer Tochter stellen, die erklärt hatte, sie wolle jetzt ihre Eltern unterstützen. Eine tränenreiche Angelegenheit“, erinnert Thiemann sich.

Doch das Kapitel ist noch schmerzlicher. Bald stellte Thiemann fest, dass einige Mitarbeiter die Schule betrogen. „Das konnte ich mit meinem Controlling-Know-how innerhalb eines Monats im Keim ersticken.“ Es folgten Entlassung und Anzeige. Diese Ex-Mitarbeiter machten ein eigenes Projekt auf – und warben Beluga-Kinder ab, erinnern sie sich in Na Nai. Die Ehemaligen versprachen ihnen demnach, dort bekämen sie Geld. Vor allem auf die guten Tänzer hätten sie es abgesehen gehabt, sagen Ex-Kollegen bitter. Um Geld zu sammeln, hätten sie die Kinder als Tanzgruppe an Hotels vermietet. Noch heute müssten Kinder aus diesem Projekt auf dem Markt mit weinerlichem Gesicht Kekse verkaufen, um Touristen Geld aus der Tasche zu ziehen. Für Thiemann ist das „eine wirkliche Schande“.

"Heute leben die Kinder"

May versprachen sie damals 500 Baht im Monat, damit wollte sie ihre Eltern unterstützen. Die leben in einer ärmlichen Hütte aus Wellblechresten am Rande eines Seenomadendorfes 20 Autominuten entfernt. Ihr Vater Tu brachte damals als Tagelöhner nur rund 1000 Baht (20 Euro) im Monat heim, trank, war krank. Europäische Rationalität mag das kaum verstehen, aber May liebt dieses Zuhause. Eine Beluga-Mitarbeiterin kümmerte sich noch darum, dass eine Geschwulst des Vaters im Hospital behandelt wurde. Aber May ging. Sie habe nie einen Baht bekommen. Daraufhin suchte sie sich Arbeit, um den Eltern zu helfen, erinnern sich Mays ehemalige Förderer.

Doch es war wohl nicht nur das. Die Fachleute sagen, es sei leider immer noch so, dass bei den Moken in Thailand Bildung als unnötig gelte, die Gemeinschaft ganz oben stehe und Mädchen meist mit 18 schon ein oder zwei Kinder haben. Wenn die Kinder sich etwas in den Kopf setzten, ließen die Eltern sie meist machen. „Es ist einfach so“, sagt Beluga-Psychologin Emma traurig.

Die Thailänderin kam erst im Frühjahr 2007 an die Schule. Da hatten sie ganz andere Probleme, sagt die zerbrechlich wirkende Frau mit rosa Verblendungen auf der Zahnspange. Nach einigen Monaten hatten die Eltern oder verbliebene Verwandte von vielen Kindern Arbeit im hunderte Kilometer entfernten Bangkok gefunden, die Kinder sollten mit. „Als ich kam, waren nur noch 35 Kinder hier“, erinnert sie sich, „viele waren aggressiv.“

Die Größeren unter ihnen terrorisierten das Dorf Na Nai. Jörg Thiemann bat die damals für die Malteser arbeitende Expertin um Hilfe. „Fast jeden Tag hatte ich ein Gespräch mit dem Bürgermeister, den Leuten im Dorf, Eltern.“ Die Jungs prügelten sich, legten Brandsätze oder stahlen als Mutprobe. Thai-Kultur sei es, Teenager zu schlagen, wenn sie Probleme machten, die Eltern redeten meist nicht mit ihren Kindern, sagt Emma. Sie ging mit jedem der Kinder heim, häufig waren inzwischen Stiefväter da. Oft, so stellte sich heraus, wurden Kinder von ihnen auch missbraucht. Da habe es kein Vertrauen zu den Eltern gegeben. Um bei Beluga wirklich eine Art neue Familie entstehen zu lassen, wurden statt der Lehrer Mentoren in den Wohngruppen eingesetzt. Heute schreiben die Ersatzmamas und -papas jeden Tag einen Bericht, der sofort gelesen wird. Heute, sagt Emma, leben die Kinder, sie sind nicht mehr wie Roboter, sie haben ein gesundes Selbstbewusstsein und Freude am Leben, ältere kümmern sich um jüngere. Emma ist stolz, dass sie das geschafft haben.

Mit den Jobs wird es immer schwerer

Fünf Jahre nach dem Start sind nur noch rund die Hälfte der Kinder Betroffene der Tsunami-Katastrophe. Die Erwachsenen reden über diesen Tag nur, wenn die Kinder selbst davon anfangen, „aber wir vergessen das nicht“ sagt Emma. Doch es sei besser, in die Zukunft zu blicken. „Sie haben keine tiefen Traumata.“ Langsam trauen sie sich auch wieder an den Strand. Nachts allerdings wollen die meisten dort immer noch nicht sein. Als sie im Sommer dort mal campen wollten, war die Skepsis der Kinder groß. Am Gedenktag aber fahren sie zur offiziellen Feier.

Als May ging, verdingte sie sich als Gärtnerin „beim big Boss“, arbeitete in einer Kolonne, mal in Phuket, mal anderswo. Aber nicht immer gab es Arbeit. „Big Boss“ nennen sie in ihrem Dorf einen Landbesitzer, der den früher umherziehenden Seenomaden immer mal wieder einen Job verschafft. „Ich habe 230 Baht am Tag verdient“, berichtet die 16-jährige May nicht ohne Stolz auf ihrem Wochenbett. Mit einem Plastikfächer wedelt sie ihrem schlafenden Baby Luft zu. Längst wohnt sie auch in einer Hütte aus Stroh und Wellblech wie die Eltern, direkt bei ihnen nebenan. Ihr Bett sind ein paar Matten und eine Nackenrolle auf einem Gerüst aus Stöcken, im Geflecht der Wand stecken zwei Kämme, Guitars Utensilien stehen in einem Körbchen neben seiner rosa Schlummerdecke.

Ihr Mann Ou ist 32 Jahre alt, May ist seine zweite Frau. Seine erste hat Ou in der Killerwelle verloren, sie arbeitete als Zimmermädchen in einem der Hotels in Khao Lak. Er hatte dort beim Sicherheitsdienst angeheuert – aber an dem Tag frei. Vor rund einem Jahr entdeckte er dann die junge May. Inzwischen verdingt auch Ou sich als Tagelöhner beim „big Boss“. Gerade ist er mit einer Art Tornister heimgekommen, bloßer Oberkörper, Sarong über einer Hose und Gummistiefel. Er habe die Felder sprühen müssen, sagt er. Was er da sprüht? Er zuckt mit den Schultern. Er beziffert seinen Tageslohn auf rund 200 Baht – etwa vier Euro. Immer schwerer werde es mit den Jobs, Migranten aus Birma arbeiteten für noch weniger Geld, sagt er sehr leise. Oft müsse er erstmal weit mit dem Moped fahren.

In der Schule hat sich viel geändert

Trotzdem hat der junge Mann sich einiges vorgenommen. Er will die Hütte erweitern, die ersten Gerüststangen stehen schon. Eben kommt auch Mays Vater Tu – das Geschwür unter dem Auge ist verschwunden. Er sieht besser aus als damals, wenn auch recht müde. Selbst ein Schwein zu mästen, wäre dem dürren Mann mit den gelb unterlaufenen Augen heute zu viel, sagt er. Anne von der Beluga-Schule, die sich damals um den Vater gekümmert hat, will jetzt Babysachen für ihre frühere Schülerin besorgen. Und am liebsten holte sie sie mit dem Baby wieder nach Na Nai. May wirkt zum Abschied ein wenig traurig. Inzwischen vermisst sie die Schulkameraden schon, sagt sie. Doch dann ist sie schon wieder ganz bei Guitar.

In der Beluga-Schule würde sie einiges kaum wiedererkennen. Jörg Thiemann hat die Schule fürs Leben weiterentwickelt. Inzwischen lernen hier 152 Mädchen und Jungen. Einige, wie der 17-jährige Blah, der unbedingt Arzt werden will, von Anfang an. Auf dem Gelände sind neue Gebäude entstanden, es gibt Ziegen und zwei Wasserbüffel. Inzwischen hat die Schule auch einen Namen als Ausbildungsstätte für die Hotellerie, sie haben Kooperationen mit Fünf-Sterne-Häusern, die die Schüler anschließend beschäftigen, auch über Khao Lak hinaus. Einen Teil der Ausbildung machen die Jugendlichen im an die Schule angegliederten Gästebereich mit Bungalows und Pool. Dieses besondere Hideaway entdecken inzwischen sogar Hochzeitsreisende, freut sich Thiemann. Auch sie finanzieren die Schule mit. 

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