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Vor zwei Jahren: Sicherheitskräfte sperren den Anschlagsort in Istanbul ab.

© dpa

Nach den Anschlägen in Istanbul: Die Türkei steht vor einem Krieg mit dem IS

Eine türkische Reiseführerin hat möglicherweise mehreren Menschen am Anschlagsort in Istanbul das Leben gerettet. Politisch steht die Türkei vor einer Konfrontation mit dem IS - und einer neuen Flüchtlingsdebatte.

Als Sibel Satiroglu ein klickendes Geräusch hörte, schaute sie sich die Reisegruppe vor ihr genau an. Sie bemerkte einen jungen Mann, der sich zu der Gruppe auf dem Hippodrom vor der Blauen Moschee gesellt hatte und der so ganz anders aussah als die deutschen Besucher und die anderen zwei Dutzend Ausländer um ihn herum. Die Istanbuler Fremdenführerin verstand sofort, was das bedeutete. "Lauft weg", rief sie auf Deutsch - und rettete damit wohl mehreren Menschen das Leben.

Das klickende Geräusch, das Satiroglu hörte, war die Entsicherung des Bombengürtels am Körper eines 28-jährigen Syrers, der am Dienstagmorgen als Selbstmordattentäter des Islamischen Staates (IS) zehn deutsche Touristen und sich selbst tötete. Die Fremdenführerin erlitt Verletzungen an den Beinen und einen Hörsturz, wie die Zeitung "Hürriyet" am Mittwoch meldete.

Für einen gezielten Angriff auf Deutsche gebe es keine Hinweise, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) am Mittwoch bei einem Besuch in Istanbul. Sein türkischer Amtskollege Efkan Ala sagte, im Zusammenhang mit dem Anschlag sei ein Verdächtiger festgenommen worden.

Während Satiroglu und die anderen Verletzten weiter behandelt werden, fragen Beobachter nach den Hintergründen des Anschlags. Warum sollte der IS ein Land angreifen, das für die Gruppe von entscheidender Bedeutung ist? Die Türkei mit ihrer 900 Kilometer langen Grenze zu Syrien ist als Nachschubraum für den IS nicht zu ersetzen; die Dschihadisten, die in ihrem Machtbereich nicht weit von den türkischen Grenzen in Syrien und Irak eine Schreckensherrschaft errichtet haben, ließen den Nachbarn im Norden lange in Ruhe.

Umgekehrt zögerte die Türkei fast ein Jahr, bevor sie sich letzten Sommer dem internationalen Kampf gegen den IS anschloss. Kritiker werfen Ankara vor, die Islamisten als Verbündete im Krieg gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und bei Bemühungen zur Begrenzung des Machtbereichs der syrischen Kurden zu betrachten. Die Regierung weist dies zurück, doch kam von den westlichen Verbündeten und der Opposition zu Hause immer wieder Vorwürfe eines Stillhalteabkommens mit den Extremisten.

Die Konfrontation zwischen dem IS und der Türkei könnte sich verschärfen

Damit ist es vorbei. Ein "Krieg ohne Grenzen" habe begonnen, schrieb der Kolumnist Murat Yetkin in der Online-Zeitung "Radikal". Ergun Babahan von der Zeitung "Özgür Düsünce" warnte, der Anschlag sei "ein klares Zeichen, dass der Syrien-Krieg auf türkischem Boden angekommen ist". Die Konfrontation könnte sich ab sofort noch verschärfen.

Schon seit einiger Zeit gibt es Anzeichen für eine energischere Politik der Türkei gegenüber dem IS. Nur einen Tag vor dem Istanbuler Anschlag meldete die regierungstreue türkische Zeitung "Yeni Safak", Panzer und Artillerie hätten von der türkischen Seite der syrischen Grenze den Vormarsch von Rebellen unterstützt, die auf dem Weg in die vom IS gehaltene Stadt Jarablus am Euphrat seien. Seit Wochen gehen türkische Sicherheitskräfte mit Festnahmewellen gegen IS-Netzwerke vor.

Zusammen mit den USA bemüht sich die Türkei, die Grenze zu Syrien für IS-Kämpfer undurchlässiger zu machen. Gleichzeitig fordert der IS die Türkei immer häufiger durch Aktionen auf türkischem Boden heraus, und zwar nicht erst seit Dienstag. Der Tod von mehr als 130 Menschen bei IS-Anschlägen im vergangenen Jahr und mehrere Morde an IS-kritischen syrischen Journalisten in türkischen Städten sprechen eine deutliche Sprache. Innenminister Ala sagte, in der Woche vor dem Istanbuler Anschlag seien 220 mutmaßliche IS-Anhänger von der Polizei festgenommen worden.

Flüchtlingspolitik Ankaras steht in Frage

Nach dem Anschlag von Istanbul hat Ministerpräsident Ahmet Davutogl keine andere Wahl, als weiter mit Härte gegen den Dschihadisten vorzugehen. Bereits in den Stunden nach dem Anschlag nahm die türkische Polizei bei Razzien in mehreren türkischen Städten fast 60 mutmaßliche IS-Anhänger fest. Die Sicherheitsbehörden jagen die Mitglieder vermuteter IS-Terrorzellen, die in die Türkei eingeschleust worden sein sollen, um Anschläge zu verüben.

Trotz des Kurswechsels fragen Kritiker, wie es zu der derzeit so gefährlichen Lage kommen konnte. Für sie steht fest, dass eine verfehlte Syrien-Politik Ankaras das eigentliche Grundübel ist. Jene, die zu Beginn des Syrien-Konfliktes im Jahr 2011 noch davon träumten, innerhalb weniger Monate in den Moscheen von Damaskus beten zu können, seien nun nicht einmal mehr in der Lage, ohne Gefahr für Leib und Leben die Blaue Moschee in Istanbul zu besuchen, schrieb Babahan mit Blick auf die türkische Führung.

Babahans Kollege Mehmet Yilmaz von der "Hürriyet" kommt zu einem ähnlichen Ergebnis - und stellt zudem die Flüchtlingspolitik Ankaras in Frage. Die Toleranz gegenüber radikalislamischen Gruppen in Syrien sei ein großer Fehler gewesen, meint Yilmaz. Zudem wisse niemand, wie viele Dschihadisten unter den rund zwei Millionen syrischen Flüchtlingen seien, die von der Türkei aufgenommen wurden. "Es ist, als säßen wir auf einer Bombe, die jeden Moment losgehen kann."

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