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Politik: Nach den Sonntagsreden

DIE REFORMDEBATTE

Von Tissy bruns

Wenn die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt ist, dann kann es leicht passieren, dass keiner sie richtig übernimmt. Und weil das eine angenehme Lage ist, neigen die Verantwortlichen zum Verharren in diesem Zustand. Es bewegt sich monatelang nichts, aber aufregen kann man sich jeden Tag neu – über die Fehler und Versäumnisse auf der anderen Seite.

So sind die letzten Wochen verstrichen. Der Reformprozess ist in das Stadium des Stellungskrieges zwischen Union und SPD übergegangen. Zeitweise. Denn tot ist er nicht. Ein wahrhaft praller Sommer halbpolitischer Skandale hat es nicht geschafft, die sperrigen Themen Gesundheit, Rente, Steuern zu verdrängen. Im Gegenteil. Während die Politiker emsig diverse schwarze Peter hin- und hergeschoben haben, sind nach und nach alle Karten auf den Tisch gekommen. Gerhard Schröders Agenda 2010 vom März war eine übersichtliche Liste von Einzelschritten; inzwischen hat auch der Letzte begriffen, dass alle großen Strukturfragen aufgerufen sind. Die Sozialsysteme. Unser Steuer- und Subventionswesen. Die föderale Verteilung von Geld und Macht. Der mentale Abschied vom für alles zuständigen Staat. Das ist der Vorteil nach diesem Sommer.

Der Nachteil der Phase Stellungskrieg ist allerdings nicht unerheblich: Es blickt keiner mehr durch. Die Bürger jedenfalls nicht, die inzwischen alles für möglich halten. Dazu beigetragen hat die Regierung mit verwirrenden Einzelvorschlägen, aber auch die Opposition, die in ihren eigenen Nebelvorhängen den Überblick verliert, welcher jeweilige Schachzug den Machtinteressen, welcher den Strukturreformen gilt. Kündigt Edmund Stoiber neuerdings einen eigenen Vorschlag zur Steuerreform an, weil das der Sache dient oder nur seinem Wahlerfolg? Der Ausstieg der FDP aus der Gesundheitsreform hinterlässt einen faden Nachgeschmack, weil sie in Reformgeschrei ausbricht, nachdem sie für ihre Klientel gesorgt hat. Hat Franz Müntefering die Sache im Auge, wenn er gegen die Rente mit 67 argumentiert, oder die erhitzten Gemüter in seiner Partei und ihr gewerkschaftliches Umfeld? Die Grünen kämpfen zwischen den großen Blöcken, aber am heftigsten kämpfen sie um das schöne Etikett des Reformmotors.

Man kann keiner Partei, keinem Kanzler, keinem Ministerpräsidenten vorwerfen, dass sie auf ihre Wähler schielen. Und verstehen, dass die Politiker es umso mehr tun, wenn keine Geschenke, sondern Zumutungen verteilt werden müssen. Aber selten hat die Politik so sehr das Ziel des gesunden Wähler-Opportunismus verfehlt, nämlich die Bürger zu überzeugen und Akzeptanz für die eigene Politik zu schaffen. Nach dem Sommer lautet die Bilanz: viel taktisches Gerede, miserable Kommunikation.

Das ist gefährlich. Denn bei den großen Strukturfragen geht es um viele sofort spürbare Zumutungen, denen mit der Steuerreform eine kleine Wohltat in der Gegenwart und ein ungewisses Zukunftsversprechen gegenüberstehen. Zehn Euro für den Arztbesuch, weniger Kündigungsschutz und Arbeitslosengeld, Nullrunden bei der Rente? Schön ist das doch alles nicht. Es ist notwendig, damit es nicht weiter bergab geht, die Arbeitslosenzahl nicht noch mehr wächst, das Bildungswesen weiter ins Hintertreffen gerät. Dazu passt weder das große Reform-Tremolo, zu dem die Politiker in Sonntagsreden neigen. Und schon gar nicht taktischer Kleinkrieg um Machtfragen. Die Akzeptanz für Reformen, die nicht schön, aber nötig sind, ist gewachsen. Nichts ist besser geeignet, sie wieder zu zerreiben, als die sommerliche Mischung von Tremolo und Kleinkrieg.

Die Bürger müssen an das Zukunftsversprechen glauben können, dass unser Gemeinwesen Sicherheit und Dynamik nur mit leichterem Sozialgepäck gewinnen kann. Deshalb ein Wunsch an alle Parteizentralen und Grundsatzabteilungen: Nutzt die vier Wochen bis zur Bayernwahl wenigstens zum Nachdenken. Wir brauchen kluge und nüchterne Begründungen, warum was sein muss. Damit es danach wirklich losgehen kann.

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