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Teile der Brüsseler Innenstadt war nach den Anschlägen vom Dienstag weiträumig abgesperrt.

© dpa

Nach den Terroranschlag von Brüssel und Paris: Die Offensive gegen Europa

Nach Paris hat die Terrormiliz „Islamischer Staat“ jetzt in Brüssel Unschuldige ermordet. Wie groß ist die Bedrohung für Deutschland und Europa? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Frank Jansen

Der Angriff in Brüssel ist offenbar Teil einer Offensive des IS gegen Europa. Erster Akt waren die Anschläge vom 13. November in Paris, nun hat sich der IS auch zum Terrorangriff auf die belgische Hauptstadt bekannt. Es dürften Mitglieder desselben Kommandos zugeschlagen haben. Zumindest ein Anlass dürfte die am Freitag in Brüssel erfolgte Festnahme von Salah Abdeslam gewesen sein, dem Logistiker der Attentäter von Paris. Brüssel ist zudem als Zentrum der EU auch eine Stadt mit Symbolwert.

Was weiß man über die Attentäter?

Bislang gibt es nur Vermutungen. Möglicherweise waren zwei Komplizen von Abdeslam jetzt auch bei den Anschlägen dabei. Die belgischen Behörden nennen einen Mann namens Najim Laachraoui, dessen Fingerabdrücke auf den Resten eines Sprengstoffgürtels in Paris gefunden wurden, und einen Mohamed Abrini. Er soll ein Jugendfreund Abdeslams sein. Die Nationalität von Laachraoui ist unbekannt, Abrini ist Belgier. Die belgische Polizei fahndete am Dienstagabend nach einem Verdächtigen, der offenbar mit den Anschlägen am Brüsseler Flughafen in Zusammenhang steht. Ein veröffentlichtes Foto, das am Flughafen Brüssel aufgenommen wurde, zeigt einen Mann in einer hellen Jacke mit einem Gepäckwagen.

Gab es Hinweise, dass so etwas passieren könnte?

Abdeslam selbst hatte nach seiner Festnahme eine Attacke angedeutet. Er sei bereit gewesen, „von Brüssel aus etwas Neues zu starten“, sagte der Franzose am Sonnabend den Ermittlern. Mit diesem Satz zitierte ihn am Sonntag der belgische Außenminister Didier Reynders. Der Politiker sprach von Hinweisen auf ein Netzwerk um Abdeslam und erwähnte auch die vielen Waffen, die in Belgien bei den Razzien nach den Anschlägen in Paris gefunden wurden. In deutschen Sicherheitskreisen ist zu hören, die belgischen Kollegen hätten in einer „Lageeinschätzung“ nach der Festnahme von Abdeslam einen Racheakt erwartet. Außerdem gilt die Islamistenszene in der Brüsseler Islamistenhochburg Molenbeek als so gefährlich, dass jederzeit mit einem Anschlag zu rechnen ist. Hier konnte sich Abdeslam offenbar auch vier Monate verstecken.

Wollten die Attentäter Flugzeuge kapern wie am 11. September 2001?

Das ist nach derzeitigen Erkenntnissen unwahrscheinlich. Vermutlich wollten die Täter in Brüssel selbst viele Menschen töten und verletzen. Offenbar sollte die Stadt getroffen werden – wegen der Festnahme von Abdeslam und weil ein Anschlag hier wie ein Stich ins Herz der EU erscheint.

Außerdem hätten die Terroristen angesichts der Sicherheitsschleusen in Flughäfen riskiert, die Passagiermaschinen gar nicht zu erreichen. Gegen eine geplante Entführung von Flugzeugen spricht auch, dass ein Anschlag in der U-Bahn verübt wurde. Wahrscheinlich hatten die Terroristen geplant, in der Stadt weiche Ziele anzugreifen, also Orte mit vielen Menschen. Da ist die Auswahl groß. Warum die Attentäter sich für Objekte der Verkehrsinfrastruktur entschieden, ist offen – aber nicht ungewöhnlich. Im Juli 2005 sprengten sich in London vier islamistische Rucksackbomber in drei U-Bahnen und einem Bus in die Luft. 52 Passagiere starben. Im Januar 2011 töteten zwei Selbstmordattentäter im Moskauer Flughafen Domodedowo 36 Menschen.

Wie hängen die Anschläge mit den Attentaten von Paris zusammen?

Deutsche Sicherheitskreise werten die Angriffe in Paris und Brüssel als traurige Höhepunkte einer Offensive der Terrormiliz IS gegen Westeuropa. Die Täter in der belgischen Hauptstadt gehörten vermutlich zum selben Netzwerk wie die in Paris, sagte ein hochrangiger Experte. Auch in Brüssel hätten offensichtlich keine „einsamen Wölfe“ gehandelt, sondern Terroristen, die geplant agieren. Deshalb sei auch jetzt die Gefahr keineswegs vorbei, das betreffe auch Deutschland und Westeuropa insgesamt.

Als Drahtzieher gilt der IS-Funktionär Al Battar al Libi, er soll für die Planung von Anschlägen in Europa zuständig sein. Der mutmaßlich aus Libyen stammende IS-Mann habe wahrscheinlich in Syrien den Belgier Abdelhamid Abaaoud instruiert, der die Attentäter von Paris steuerte, sagen Sicherheitskreise. Ein weiterer Anführer der Pariser Gruppe war Salah Abdeslam. Er fuhr in der französischen Hauptstadt seine Kumpane zu Anschlagszielen. Außerdem war Abdeslam maßgeblich an der Beschaffung von Zündern und Chemikalien zur Herstellung von Sprengstoffwesten beteiligt. Der Franzose verzichtete allerdings darauf, sich selbst in die Luft zu jagen. Seine Sprengstoffweste warf er weg.

Abaaoud, Abdeslam und ihre Komplizen werden von Sicherheitsexperten einem Netzwerk des IS zugeordnet, das gezielt Westeuropa angreift. Die Terrormiliz habe ursprünglich drei Gruppen mit etwa 30 Kämpfern für die Anschläge gebildet, heißt es. Mehrere Mitglieder der ersten Gruppe seien jedoch bei einem Luftangriff der Amerikaner auf die vom IS besetzte syrische Stadt Rakka getötet worden. Die zweite Gruppe sei die der Attentäter in Paris gewesen. Aus den Überlebenden von Paris, militanten Islamisten im Brüsseler Stadtteil Molenbeek und weiteren, bislang unbekannten Dschihadisten setze sich die dritte Gruppe zusammen. Ihr führender Kopf war offenkundig der aus Paris nach Molenbeek entkommene Abdeslam.

Gibt es weitere Terroristen aus dem Netzwerk, von denen eine unmittelbare Gefahr ausgeht?

Wie diese dritte Gruppe genau aussieht, wissen die Sicherheitsbehörden offenbar nur zum Teil. Zugerechnet werden ihr Najim Laachraoui und Mohamed Abrini, beide sind jetzt womöglich bei den Anschlägen in Brüssel gestorben. Zur Gruppe könnte auch der aus Deutschland stammende Dschihadist Hüseyin D. gehören. Er wird im Zusammenhang mit den Anschlägen in Paris gesucht. Hüseyin D. soll Mitglied der „Lohberger Brigade“ sein, einem Trupp von IS-Anhängern aus Dinslaken (Nordrhein-Westfalen). Die Islamisten waren in den syrischen Bürgerkrieg gezogen und hatten sich der Terrormiliz angeschlossen.

Zur dritten Gruppe zählen vermutlich auch drei Männer, die Abdeslam im Oktober 2015 in Ulm abgeholt hat. Der Franzose war mit einem Mietwagen von Belgien aus dorthin gefahren. Seine drei Bekannten lebten in Ulm in einer Flüchtlingsunterkunft. Sie hatten sich als Syrer ausgegeben. Abdeslam verschwand mit den Männern. Wo sie geblieben sind, ist unklar. Abdeslam selbst brachte den Mietwagen nach Belgien zurück.

Der dritten Gruppe könnten weitere Dschihadisten angehören, die im Auftrag des IS Westeuropa angreifen sollen. Sicherheitsexperten befürchten auch, dass der IS seine Taktik ausweitet – auf Simultananschläge in mehreren Ländern. Und womöglich mit Giftgas, das die Terrormiliz inzwischen offenbar selbst herstellt.

Führt eine Spur nach Deutschland?

Die Ulmer Geschichte ist eine Spur, eine weitere führt nach Berlin. Im Februar hob die Polizei eine Gruppe von Terrorverdächtigen aus, die den Checkpoint Charlie im Visier hatte. Mutmaßlicher Anführer des algerischen Trupps war der frühere Syrien-Kämpfer Farid A. Es gibt ein Foto, auf dem er mit dem IS-Funktionär Al Battar al Libi zu sehen ist – also dem Mann, der wahrscheinlich den Anführer der Paris-Attentäter, Abdelhamid Abaaoud, dirigiert hatte. Ein weiteres Foto zeigt Farid A. in Syrien, er posiert da mit einer Pistole vor einem Arsenal weiterer Waffen, darunter Kalaschnikows und Handgranaten.

Ein weiteres Mitglied der algerischen Gruppe war zudem kurz vor dem Zugriff des Berliner Landeskriminalamts in Molenbeek. Ob der Mann den sich dort versteckt haltenden Abdeslam getroffen hat, ist offen. Der Algerier bestreitet jede Verbindung zum islamistischen Terror.

Auffällig ist auch, dass Abaaoud zumindest zweimal in Deutschland gewesen ist. 2008 hatte er in Köln ein Ausfuhrkennzeichen für ein Fahrzeug beantragt. Am 20. Januar 2014 stieg er am Flughafen Köln-Bonn in eine Maschine nach Istanbul. Möglicherweise stand Abaaoud in Kontakt zur Islamistenszene in Bonn, die als besonders gefährlich gilt. Im Dezember 2012 hatte ein Salafist am Bonner Hauptbahnhof eine Bombe abgelegt, die vermutlich nur wegen eines technischen Defekts nicht explodierte.

Belgien hat den Schutz seiner Atomkraftwerke verstärkt. Gibt es eine konkrete Gefahr?

Die Evakuierung von zwei Akws ist offenbar eine Vorsichtsmaßnahme. Belgische Medien hatten nach den Anschlägen in Paris berichtet, den Behörden liege ein Video der Terroristen vor, in dem der Leiter des belgischen Forschungs- und Entwicklungsprogramms für Kernenergie zu sehen sei. Womöglich wollten die Dschihadisten den Mann als Geisel nehmen, um in ein Atomkraftwerk zu gelangen. (mit AFP)

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