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In Brasilien setzt sich die Erkenntnis durch: Die Probleme nach der WM sind dieselben wie vorher.

© firo Sportphoto

Nach der WM in Brasilien: Die ernüchterte Nation

Eine Woche nach der WM gehen sie erstaunlich gelassen mit dem Scheitern ihrer Träume um. „Vielleicht“, sagt einer, „sind wir Brasilianer einfach erwachsen geworden“.

In der Rua Benjamin Constant ist immer noch Weltmeisterschaft. Über der Straße flattern bunte Kunststoffstreifen, ein Treppenanstieg leuchtet in Grün und Gelb. Von einer Hauswand schauen einen selbstbewusst die brasilianischen Nationalspieler an – die doch am Ende vor allem weinten.

Für die Dekoration haben die Anwohner einen Preis erhalten: „Schönste Straße Rio de Janeiros.“ Die Auszeichnung wird zu jeder Fußball-WM vergeben, aber dieses Jahr hat man sich besonders viel Mühe gegeben. Ein Zeichner hielt sogar jeden Bewohner auf der Mauer eines Eckhauses fest. Alle tragen ein gelbes Trikot: „Gemeinsam auf dem Weg zum Hexa“, steht da. Der sechste WM-Titel, er schien so nah.

Nur eine Woche nach der WM wirken die Zeichnungen schon wie Überbleibsel einer vergangenen Epoche. Einer Zeit, in der Fußball für Brasilien noch sinnstiftend war. Als eine Nation sich in elf jungen Männern verschiedener Herkunft spiegelte. Und eine Gesellschaft, die die Gräben vergaß, die sie durchziehen.

Das Spiel, das endgültig alles änderte, sahen sie zu Hunderten vor einer Kneipe auf Großleinwand. Brasilien wurde von den Deutschen schwindlig gespielt, und schon in der Halbzeit machte ein Witz die Runde: „Anstoß Brasilien – Tor Deutschland. Elfmeter Brasilien – Tor Deutschland. Abpfiff – Tor Deutschland.“ Walter Peixoto, der seit 1986 mithilft, die Straße zu schmücken, war an dem Tag für den Grill zuständig: „Was willste da machen, Bruder. Fußball! Mal verliert man, mal gewinnt man. Brasilien ist aber immer Spitze im Volleyball.“ Für den 48-jährigen Peixoto geht das Leben weiter. „Vielleicht sind wir Brasilianer einfach erwachsen geworden.“

Keine nationale Depression

Schulterzucken als letzter Ausläufer einer Erschütterung. Eine nationale Depression, es scheint sie nicht zu geben. Der Fußball ist auch in Brasilien: nur noch ein Spiel.

Das war mal anders. Nach der Niederlage im Endspiel gegen Uruguay 1950 sollen sich mehrere Menschen das Leben genommen haben. Als Brasilien 1982 bei der WM gegen Italien ausschied, titelte eine Zeitung: „Verzweiflung bringt Hunderte in die Krankenhäuser.“ Damals habe man in der Rua Benjamin Constant die Wandgemälde überstrichen, „noch in derselben Nacht“, erinnert sich Peixoto.

Doch alles, was man nun, nach dem 1 : 7, registrierte, waren brennende Busse in São Paulo und ein wutentbrannter Mann, der seinen Fernseher auf die Straße schmiss und zum Youtube-Hit wurde. In der Benjamin Constant gipste einer spontan das Gesicht von Nationaltrainer Felipe Scolari zu. „Wir zwangen ihn, es wieder freizulegen“, sagt Peixoto, „er bat um Entschuldigung.“

Muss man Brasilien neu denken? Hat das Land über den letzten drei, allesamt verkorksten Weltmeisterschaften seine Beziehung zum Fußball neu geordnet?

In der Niederlage vergehen die Illusionen

„Der Fußball war unser Brücke in die Moderne“, sagt Roberto da Matta. Der 78-Jährige sitzt im sonnigen Garten seiner Villa in Niteroi, Rios Schwesterstadt auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht. Da Matta gilt als der wichtigste Anthropologe Brasiliens, 2006 hat er ein Standardwerk über den Fußball geschrieben. Übersetzt heißt es: „Der Ball läuft schneller als die Menschen“.

Da Matta fährt sich nachdenklich durch den grauen Bart: „Der Fußball gab uns Selbstbewusstsein und das Gefühl dazuzugehören.“ Aber heute, das habe die WM gezeigt, sei die Sache komplexer. Denn Modernität, das Dazugehören, werde nicht auf dem Fußballplatz entschieden. „Modernität, das heißt auch: Rechtsstaat, Bildung, Krankenhäuser, Sicherheit.“

Deswegen sei das 1:7 gut gewesen. In der Niederlage vergehen die Illusionen. Brasilien könne nicht mehr darauf hoffen, dass elf junge Männer es von seinen Sünden erlösten.

Dennoch, auch das sei klar, bleibe der Fußball das schönste Spiel der Welt. Er selbst, sagt da Matta, habe alle 64 WM-Spiele gesehen.

Sofia Gomes war bei sieben Spielen dabei, alle im Maracanã-Stadion. Vom Finale schmerzen immer noch ihre Waden. „Diese hochhackigen Schuhe!“ Gomes hat als Hostess in einer Vip-Lounge gearbeitet, obligatorisches Outfit: blaue Uniform, roter Lippenstift, zusammengebundene Haare.

Als die Copa ihren Höhepunkt erreicht, zeigt Brasilien doch noch sein anderes Gesicht

Eigentlich darf Gomes nicht mit der Presse über ihren Job sprechen. So steht es in ihrem Arbeitsvertrag mit einer Sportvermarktungsagentur, die von der Fifa mit der Betreuung der Vips beauftragt worden war. Sofia Gomes ist deswegen nicht der richtige Name der zierlichen schwarzen Frau, die drei Nächte nach dem Finale auf der Suche nach einem Job in Rios Zentrum ist. Sie war aus 15 000 Bewerberinnen ausgewählt worden, bewirtete Manager, Politiker und Show-Stars. 3000 Dollar kostete eine Karte für ihre Lounge, Champagner und Whisky inklusive.

An Spieltagen arbeitete Gomes zehn Stunden lang, bekam umgerechnet 100 Euro. Die schönste Erinnerung der 30-Jährigen: der Sieg Deutschlands gegen die Argentinier. Gomes will sich nun bei den Olympischen Spielen 2016 wieder bewerben. Für eine leitende Funktion. Das persönliche Fortkommen, es bedeutet für sie viel mehr als das Abschneiden der Nationalmannschaft. „Was habe ich denn mit Neymar oder Oscar zu tun?“, fragt sie. „Die leben ja nicht mal hier.“ Auch das ist das neue Brasilien. Man hat eine gesunde Distanz zu den alten Helden.

Vielleicht ist die neue Nüchternheit auch dafür verantwortlich, dass die WM, anders als vielfach beschworen, organisatorisch reibungslos verlief. Die „Financial Times“ kürte die Copa schon zur „besten WM seit 1990“. Es gab keine Stromausfälle, keine Riesenstaus, keine Verzögerungen. Was allerdings auch damit zu tun hatte, dass an Spieltagen in den jeweiligen Städten Feiertag herrschte und die Infrastruktur hauptsächlich von den Fußballfans beansprucht wurde.

"Krieg in Rio"

Und die Proteste? Vor der WM war jede noch so kleine Auseinandersetzung zum „Krieg in Rio“ stilisiert worden. Man hatte von „Tod und Spielen“ geschrieben, hatte nicht verstanden, dass die Proteste sich nie gegen den Fußball oder die Weltmeisterschaft an sich gerichtet hatten, war fast schon enttäuscht über fehlende Randale.

Und war doch blind für das Offensichtliche. Denn just, als die Copa ihren Höhepunkt erreicht, zeigte Brasilien doch noch sein anderes Gesicht. Am Dienstag nach dem Finale steht Luis Cotinguiba mit 2000 Demonstranten vor Rios Justizpalast und ruft: „Freiheit für die politischen Gefangenen!“ Viele haben Schilder dabei. „Protest ist kein Verbrechen“ oder „Land ohne Meinungsfreiheit, Land ohne Zukunft“. Junge Leute bilden die Mehrheit, aber auch Ärzte in Kitteln sind da, streikende Lehrer, Anwälte, die aus dem Justizgebäude hinzukommen. Luis Cotinguiba, Absolvent an Rios renommierter katholischer Universität PUC, ist hier, weil man ihm das Endspiel gestohlen hat.

"Wer sich regt, kriegt den Knüppel."

Am Nachmittag des Finales war der 27-Jährige auf einer Kundgebung. Es ging gegen die willkürliche Verhaftung von 19 linken Aktivisten am Tag zuvor. Die Polizei warf ihnen vor, Randale während des Endspiels geplant zu haben. Die Beweise: Gasmasken und Feuerwerkskörper. Kurz vor dem Anpfiff im Maracanã-Stadion bildeten Polizeitruppen dann einen Kessel um Cotinguiba und die anderen. „Sie beschossen uns mit Tränengas, schlugen uns, zerstörten und stahlen Kameras.“ Drei Stunden lang war Cotinguiba eingekesselt. Erst mit dem Schlusspfiff im Maracanã öffnete die Polizei ihr Gefangenenlager unter freiem Himmel.

Im Stadion bekam niemand mit, dass einige Minuten entfernt die brasilianische Verfassung suspendiert worden war. Präsidentin Dilma Rousseff überreichte den Weltmeisterpokal an Philipp Lahm. „Eine Ecke weiter fiel Brasilien in die Diktatur zurück“, sagt Cotinguiba.

Deswegen ist er auch heute wieder auf der Straße. Er, der Student für internationale Beziehungen, der nun mit einem Stipendium nach Genf geht, sagt: „Die WM hat gezeigt, dass Brasilien keine Demokratie, sondern eine selektive Diktatur ist. Wer stillhält, hat keine Probleme. Wer sich regt, kriegt den Knüppel.“

Das 7:1, war es wirklich die größte Schande in der Geschichte?

Vom Justizpalast ziehen die Demonstranten los, durch Rios Zentrum, begleitet von einigen Hundertschaften. Es ist die Generation 2013, die hier protestiert. Der harte Kern, der von den Massenprotesten im letzten Jahr übrig geblieben ist. Die WM, sie war für Cotinguiba, der selbst weiß ist und einer Elite angehört, „ein Mechanismus zur Umverteilung von unten nach oben“. Niemals werde ans Licht gelangen, was an Steuergeldern von den Baukonzernen geraubt worden sei. Brasiliens größtes Bauunternehmen Odebrecht etwa finanziere zu zwei Dritteln die Partei PMDB, die in Rio de Janeiro regiert.

Was bedeutet das 1:7 gegen Deutschland für Cotinguiba? War es die größte Schande in Brasiliens Geschichte, wie Fernsehen und Zeitungen schrieben? „Die größte Schande sind die Zwangsumsiedlungen für Infrastruktur- und Immobilienprojekte“, sagt Cotinguiba. Ihre Zahl wird offiziell mit 35 000 angegeben, liegt nach anderen Quellen aber bei 250 000.

Man könnte weitere Zahlen nennen, die das 1 : 7 niedlich erscheinen lassen. Bei der Pressefreiheit liegt Brasilien auf Platz 111 von 180 Nationen. Es belegt Rang 85 im Human-Development-Index der UN. Platz 56 in der Studie des World Economic Forum zur Wettbewerbsfähigkeit. Platz 58 in der Pisa-Bildungsstudie, einen Platz hinter Albanien.

Das Brasilien nach der WM unterscheidet sich nicht vom Brasilien vor der WM.

Bis zu den Wahlen wieder Demonstrationen

Deswegen hofft Cotinguiba, dass die Copa nur eine Pause war. Bis zu den Wahlen im Oktober werde es wieder große Demonstrationen für ein anderes Land geben. Als er in Sprechchören ein Ende von Brasiliens Militärpolizei fordert, zeigt ein Beamter am Rande auf seine Ohren: „Geht hier rein und da wieder raus“, sagt er.

Einen Abend später betritt Carlos Mansur die Sportredaktion der Zeitung „O Globo“. Das Blatt ist das Flaggschiff des gleichnamigen Medienkonzerns, der in Brasilien mit seinen Fernsehstationen ein Quasimonopol ausübt. Mansur ist Fußballreporter, hat heute Spätschicht, ist leicht verschnupft, sagt, er leide unter WM-bedingter Erschöpfung, setzt sich an einen Schreibtisch, den er sich mit einem Kollegen teilt. Mansur ist in einem elfköpfigen Reporterteam der brasilianischen Nationalmannschaft gefolgt. Vom Trainingslager zum jeweiligen Spielort und wieder zurück. Bis zur Niederlage gegen Holland in Brasilia.

„Die Copa war toll“, sagt Mansur, „die Stimmung, die Spannung, die Fans, die schönen Stadien.“ Es habe sich gezeigt: „Brasilien kann Großereignisse meistern.“ Und doch ist auch er überhaupt nicht traurig über Brasiliens Scheitern: „Es hat doch jeder kommen sehen. Den Spielern wurde eine Last aufgebürdet, die sie nicht tragen konnten.“

Medien im Märchenland

Seine Zeitung habe an dieser Übertreibung stark mitgewirkt, sagt Mansur. Man habe die Mannschaft quasi dazu verpflichtet, Weltmeister zu werden, wollte nichts anderes mehr akzeptieren. Mansur kommt auf das 1:7 zurück, kreist um die Niederlage, versucht ihr näherzukommen. „Es war ein unglückliches Spiel. Aber das 1:7 war ein stimmiges Resultat.“ Es rücke die Dinge in die richtige Perspektive. Brasilien produziere Spieler mit individueller Klasse, aber ohne taktisches Verständnis. Das Land liege bei der Jugendarbeit um Jahrzehnte zurück. „Wir haben uns viel vorgemacht.“

Und daraus könne man etwas ableiten. Denn genau so funktioniere Brasilien: eine Elite und ihre Medien, die den Menschen ein Märchenland vorführten. Ein Land, das glaube, seine Ungerechtigkeit, sein Gewaltproblem, seine Bildungsmisere mit Bekenntnissen lösen zu können.

Mansur schaltet seinen Computer an. In wenigen Stunden wird er sich ein Spiel der ersten brasilianischen Liga anschauen. Sie wird, keine 72 Stunden nach dem WM-Finale, schon wieder beginnen. Statt Deutschland gegen Argentinien heißt es nun: Flamengo gegen Atlético Paranaense. Zwanzigster gegen Siebten.

„Ernüchternd“, sagt Mansur. Aber gut, um wieder auf den Boden zu kommen.

Dieser Text erschien auf der Reportageseite.

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