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Politik: Nach Europa am frühen Morgen

Türkische Reformer feiern in Nachtsitzung beschlossene Gesetze

Von Thomas Seibert, Istanbul

Als historischen Sieg für ihre Sache haben Europa-Anhänger in der Türkei die Verabschiedung umfangreicher Reformgesetze durch das Parlament in Ankara gefeiert. Der für EU-Angelegenheiten zuständige Vize-Ministerpräsident Mesut Yilmaz sprach nach dem Schlussvotum am frühen Samstagmorgen von einem „Riesenschritt auf dem Weg in die EU". Die europa-skeptischen Nationalisten, die im Parlament mit ihrem Widerstand gegen die Reformen gescheitert waren, wollen die Gesetzesänderungen dagegen vom Verfassungsgericht kippen lassen.

In einer 16-stündigen Marathonsitzung hatte das Parlament unter anderem die Todesstrafe abgeschafft und den Kurden mehr kulturelle Rechte zugesprochen. Seit 1984 kamen im Kampf der Türkei gegen kurdische Rebellen fast 37 000 Menschen ums Leben. Das Thema EU steht nun mehr denn je im Zentrum des Wahlkampfes für die vorgezogenen Parlamentswahlen am 3. November.

Vize-Ministerpräsident Yilmaz hatte das Reformpaket auf die Tagesordnung einer Sondersitzung des Parlaments setzen lassen. Mit der Verabschiedung noch vor den Wahlen im November verfolgte Yilmaz ein doppeltes Ziel: Außenpolitisch will er die Chancen der Türkei verbessern, beim Kopenhagener EU-Gipfel im Dezember von der EU ein Datum für den Beginn von Beitrittsgesprächen zu erhalten; innenpolitisch verspricht sich Yilmaz von den Reformen eine Stärkung seiner Partei ANAP, die im Wahlkampf als Hauptverfechterin der EU-Annäherung auftreten will.

Die Abschaffung der Todesstrafe, die auch PKK-Chef Abdullah Öcalan vor dem Galgen rettet, sowie die Zulassung kurdischer Sprachkurse und kurdischsprachiger Fernseh- und Rundfunkprogramme waren die umstrittensten Neuerungen im Reformpaket. Zu den Gesetzesänderungen gehört darüber hinaus eine Stärkung der Meinungsfreiheit und des Demonstrationsrechtes. Strafen für Kritik an staatlichen Institutionen, unter anderem dem Militär, werden abgemildert. Außerdem erhalten die christliche Stiftungen in der Türkei die Erlaubnis, Immobilen zu erwerben.

Ex-Außenminister Ismail Cem, dessen Partei „Neue Türkei“ im Parlament zu den Befürwortern des Reformpaketes gehörte, sprach wie Yilmaz von einem historischen Tag. Der türkischstämmige SPD-Europapolitiker Ozan Ceyhun sagte dem Tagesspiegel, die Türkei habe etwas geschafft, an das niemand geglaubt habe. Brüssel müsse nun reagieren: „Jetzt geht es um die Glaubwürdigkeit der EU.“ Bundesinnenminister Schily (SPD) erklärte, er begrüße die Entscheidungen des türkischen Parlaments, die für die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei „von großem Wert" seien. Auch die türkische Presse überschüttete das Parlament mit Lob.

Dagegen kündigte die rechtsnationalistische Partei MHP an, nach ihrer Niederlage im Parlament werde sie nach juristischen Schwachstellen in dem Reformpaket suchen. Wenn es eine Handhabe geben sollte, werde sie vors Verfassungsgericht ziehen. Nach der Parlamentsentscheidung sind die Fronten der EU-Anhänger und -Gegner im türkischen Wahlkampf endgültig geklärt. Die Wahl im November gilt wegen der zentralen Bedeutung des EU-Themas im Wahlkampf schon jetzt als Referendum über die europäische Zukunft der Türkei.

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