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Demonstranten protestieren gegen die Wiederinbetriebnahme des Reaktors von Betreiber Kyushu Electric Power in Satsumasendai.

© AFP

Nach Fukushima: Japan fährt erstmals wieder Atomreaktor hoch

Belächelt werden sie seit Fukushima nicht mehr. Und doch konnten die japanischen Atomgegner nicht verhindern, dass heute der erste Kernreaktor in Satsumasendai wieder ans Netz ging. Ganz geheuer ist der Neustart selbst der Regierung nicht.

Gegenüber des stillgelegten Atomkraftwerkes in Satsumasendai haben sie ein kleines Protestcamp aus Bambushütten und Zelten eingerichtet. Ungefähr 400 Menschen sind zur Demonstration gekommen. Sie halten Schilder in die Höhe. „Nie wieder Fukushima“, heißt es auf einem Schild, „Tschüss, Atomkraft!“ auf einem anderen. Konservative stehen neben Kommunisten, Experten neben Laien. Alle pusten sie in ihre Trillerpfeifen. Viele unter ihnen sind schon älter. Ungewöhnlich, dass sie auf die Straße gehen, da doch in Japan Zurückhaltung als Tugend gilt. Die Bürger schauen ernst und entschlossen zu den Polizisten hinüber, die die Anlage sichern. Viereinhalb Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima ging an diesem Dienstag das erste Kernkraftwerk des Landes wieder ans Netz. Seit 10.30 Uhr Ortszeit hat Japan wieder Atomstrom.

Masaki Tsukada organisiert den Protest von Satsumasendai. Seit Monaten schon. Fast sein halbes Leben lang hat der 72-Jährige gegen Atomkraft gekämpft. Mitte 2012 wähnte er sich am Ziel. Da hörten plötzlich die zwei riesigen weißen Zylinder in seiner Heimatstadt auf zu dampfen. Auch sonst lief in Japan kein einziger Atomreaktor mehr. Nach dem Schock von Fukushima war das, nachdem am 11. März 2011 zuerst die Erde gebebt hatte und dann mehr als 20 Meter hohe Wellen über die Ostküste hereingebrochen waren. Nachdem schließlich auch noch das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi havariert war und eine Atomkatastrophe auslöst hatte, die bis heute nicht unter Kontrolle ist.

Das Unglück, vor dem Masaki Tsukada immer gewarnt hatte, es war eingetreten. Eineinhalb Jahre ließ sich die Regierung Zeit, um nach dem GAU die restlichen Kraftwerke des Landes abzuschalten. Monate, in denen immer mehr über das Ausmaß der Katastrophe bekannt geworden war. Nun endlich galt Tsukada nicht mehr als Querkopf, sondern wurde zum Anführer des Atomwiderstands in seiner Heimat.

57 der Befragten sind gegen Atomkraft

Rund 100 000 Menschen leben in Satsumasendai in der Präfektur Kagoshima, dem Südwestzipfel des japanischen Festlandes. Als hier in den 80er Jahren das erste Kernkraftwerk ans Netz ging, begann auch die politische Laufbahn von Masaki Tsukada. Und seit zwölf Jahren sitzt er nun im Stadtparlament, ein Ehrenamt mit kleiner Aufwandsentschädigung. In seinem Büro hängt noch sein Wahlplakat: „Keine Atomkraft“, steht darauf. Als ehemaliger Lehrer wollte er sich in der Politik eigentlich auf die Bildung konzentrieren, doch seit Fukushima gibt es für Tsukada kein anderes Thema mehr als die Atomkraft. Er hat eine erwachsene Tochter, die in Ibaraki, unweit von Fukushima wohnt. Auch dort steht ein Kernkraftwerk. Noch ist es abgeschaltet. Und das soll sich auch nie mehr ändern.

Während etwa in Deutschland die ferne Katastrophe den Atomausstieg endgültig besiegelte, ist Japan viereinhalb Jahre nach dem Unglück tief zerstritten über die Zukunft der Energieversorgung. Laut einer Umfrage der Tageszeitung „Mainchi Shimbun“ sind 57 Prozent der Befragten gegen das Wiederanfahren und nur 30 Prozent dafür. Für die Umfrage waren am Wochenende 1000 Menschen befragt worden. Obwohl also eine klare Mehrheit der Japaner gegen die Atomkraft ist, lässt sich die Regierung um Premierminister Shinzo Abe nicht beirren. „Wir brauchen die Atomkraft“, sagt der Premier. Für seine Wirtschaftspolitik und eine sichere Energieversorgung, die zudem weitgehend sauber sei. „Wir brauchen und wollen sie nicht“, schreien die Gegner zurück: Zu unsicher seien die Kraftwerke, außerdem gebe es doch genügend Potenzial für erneuerbare Energien.

Der Kraftwerksbetreiber schafft Jobs in der Region

Demonstranten protestieren gegen die Wiederinbetriebnahme des Reaktors von Betreiber Kyushu Electric Power in Satsumasendai.
Demonstranten protestieren gegen die Wiederinbetriebnahme des Reaktors von Betreiber Kyushu Electric Power in Satsumasendai.

© AFP

Die Regierung hat den Wiedereinstieg im vergangenen Jahr offiziell beschlossen. Doch dass das Kraftwerk von Satsumasendai erst heute ans Netz geht und, dass es das bislang einzige des ganzen Landes ist, das liegt am mal lauten, mal ganz leisen Kampf, den Masaki Tsukada und andere Lokalpolitiker täglich führen.

Eine Woche vor dem geplanten Start des Kraftwerks in seiner Stadt betritt Tsukada eine Garage in Satsumasendai. Er trägt eine schwarze, knielange Basketballhose und ein weißgrau-gestreiftes T-Shirt. Vor ihm sind ein paar Tische zusammen geschoben, bedeckt mit Flugblättern und Positionspapieren. Zehn überwiegend ältere Bürger sind gekommen. „Jetzt wird es kritisch“, sagt Tsukad. Die Bürger sind hier der Widerstand, heute wollen sie ihre nächste Operation besprechen. Seit Monaten bringen sie Hunderte, manchmal Tausende auf die Straße oder vor die verhassten Kernreaktoren. „Um zehn Uhr geht es los. Tagsüber wird es richtig heiß. Wer kann für Getränke sorgen?“, fragt Tsukada. Eine ältere Frau hebt die Hand. „Gut.“

Der Protest, das ist die eine Seite des Kampfes. Doch in seiner Zeit als Stadtverordneter hat Tsukada gelernt, auch anders Druck zu machen. „Was ist mit den Evakuierungsplänen, hat sich da jetzt was getan?“, fragt eine Lehrerin hektisch in die Runde. „Ich werde das diese Woche wieder einbringen“, antwortet Masaki Tsukada ruhig. Er erhebt nie die Stimme, gibt sich nicht als Volkstribun, der die Massen begeistern könnte. Aber mit seiner Erfahrung wird er respektiert. Die Bedenken der Kindergärtner, der Lehrer, der Rentner, die ihm hier in der Garage gegenübersitzen, will er bei seiner nächsten Rede in den Vordergrund rücken.

Der Termin wurde immer wieder verschoben

Mit den anderen Politikern des Stadtparlaments liegt er, der Sozialdemokrat, deswegen ständig im Streit. Die Mehrheit ist trotz allem für Atomkraft. Schließlich ist der regionale Stromversorger und Kraftwerksbetreiber Kyushu Electric ein wichtiger Arbeitgeber in der Stadt, finanziert Großprojekte, zum Beispiel den modernen Bahnhof, durch den deshalb auch der Schnellzug Shinkansen fährt. „Viele Politiker lassen sich davon beeindrucken“, sagt Tsukada abschätzig.

Japans parlamentarische Opposition ist klein, sowohl in der Stadtvertretung von Satsumasendai als auch in der Präfektur Kagoshima und im nationalen Parlament in Tokio. Seit 2011 haben trotz der Katastrophe die Atombefürworter fast überall die Wahlen gewonnen, weil sie auf wirtschaftspolitische Kampagnen setzten – die Kraftwerke wurden als Garant für Jobs und Wohlstand gepriesen. Premier Shinzo Abe verspricht seit seinem Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren die schnellstmögliche Inbetriebnahme der abgeschalteten Reaktoren. Im vergangenen Sommer gab die Atomregulierungsbehörde, die heute mit deutlich härteren Auflagen arbeitet als in der Zeit vor dem Desaster von Fukushima, auch erstmals ihr Einverständnis. Nach einer 20 000 Seiten dicken Bewerbungsmappe und mehreren Prüfungsrunden wurde dem ersten von zwei Reaktoren in Satsumasendai erlaubt, wieder Atome zu spalten. Seitdem heißt es: In Kürze ist es soweit.

Doch der Termin wurde immer wieder verschoben. Ausführliche Begründungen gibt es in der Regel nicht, nur ein paar kurze Mitteilungen und schließlich korrigierte Stichtage. Vergangene Woche zum Beispiel, als der Reaktor getestet werden sollte, hörten Mitarbeiter an einer Pumpe des Abklingbeckens merkwürdige Geräusche. Nach gut sechs Stunden wurde der Probelauf abgebrochen.

"Keiner will Schuld sein"

Demonstranten protestieren gegen die Wiederinbetriebnahme des Reaktors von Betreiber Kyushu Electric Power in Satsumasendai.
Demonstranten protestieren gegen die Wiederinbetriebnahme des Reaktors von Betreiber Kyushu Electric Power in Satsumasendai.

© AFP

„Vor dem kleinsten Unfall macht sich jetzt jeder in die Hose. Schuld daran will keiner sein“, sagt Tsukada. Diese Ängstlichkeit ist neu. Lange ließ die Regierung den politisch einflussreichen Stromversorgern so ziemlich alles durchgehen, was ihnen fürs Geschäft nützlich erschien und teure Investitionen ersparte. Als zum Beispiel die USA am 11. September 2001 von Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon erschüttert wurden, entwickelten amerikanische Ingenieure einen automatischen Abschaltmechanismus für Kernreaktoren. Das neue System kann die Blöcke auf einen „total blackout“ vorbereiten, wenn also ein Reaktor ohne Stromzufuhr und damit kurz vor einer Katastrophe steht. Als die USA diese neue Technologie auch in Japan anboten, lehnte die zuständige Regierungsstelle in Tokio die Offerte ab. Es bestehe keine Gefahr, hieß es.

Im Juli 2007 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 6,9 die japanische Westküste – just dort, wo das leistungsstärkste Atomkraftwerk Kashiwazaki-Kariwa liegt. Die Blöcke wurden beschädigt, Radioaktivität trat aus. Und ein Verdacht kam auf: War das Kraftwerk auf einer geologischen Verwerfung gebaut worden? Atomgegner hatten Japans größtem Stromversorger Tepco, der auch für den Großraum Tokio und Fukushima zuständig ist, schon mehrmals die Fälschung von Unterlagen vorgeworfen. Seine Sicherheitsmaßnahmen musste Tepco daraufhin trotzdem nicht verschärfen. Stattdessen konnte das Unternehmen weiter Fukushima Daiichi betreiben – das älteste Atomkraftwerk des Unternehmens.

Vier Jahre später kam es zur Katastrophe. Und noch immer verharmlosen Politiker die Folgen. Das ist mittlerweile gut dokumentiert, unter anderem im Büro von Makoto Matsuzaki. Die kommunistische Lokalpolitikerin holt von ganz oben einen schweren gelben Ordner aus ihrem Regal. „Es ist unglaublich, dass die Atomregulierungsbehörde jetzt behauptet, das Kraftwerk in Sendai sei sicher. Wer etwas von Sicherheit versteht und nicht die Regierung oder Kyushu Electric vertritt, bestätigt das Gegenteil.“ Auf der Insel Kyushu, wo Kagoshima liegt, gibt es überall Vulkane. Es ist eine der geologisch aktivsten Gegenden der Welt. Hinzu kommt die alte Generation des Reaktors Sendai: 31 Jahre ist er alt – 2024 müsste der Block regulär wieder vom Netz.

Es traut sich niemand Verantwortung zu übernehmen

„Die Debatte hat sich geändert“, sagt Matsuzaki, blättert in ihrem Ordner und sucht nach Zitaten. „,Atomkraftwerke sind absolut sicher' wurde früher bei uns im Parlament gesagt. „Völlig kontrollierbar“ seien sie. Heute spreche man lieber von einem „Restrisiko“ und wiege dies gegen die angebliche „ökonomische Notwendigkeit“ ab. Dann sagten die Abgeordneten in Japan Sätze wie: „Nichts ist 100-prozentig sicher.“ Die 57-jährige Matsuzaki ist Mutter von drei Kindern. Sie will kein Risiko mehr. „Das Gute ist“, sagt die Politikerin im beigen Kostüm, „wir Atomgegner machen seit viereinhalb Jahren so viel Druck, dass alle sehr vorsichtig geworden sind.“

Regional- und Lokalpolitiker wie Tsukada und Matsuzaki haben etliche Bürgerbefragungen organisiert, ließen Evakuierungen simulieren, stellten immer wieder Redeanträge, schalteten die Presse ein. Die Atomaufsichtsbehörde, die eigentlich auch mit Atomkraftbefürwortern besetzt ist, war dadurch gezwungen, überraschend streng zu prüfen. Ursprünglich sollte die Bewerbung, die die Reaktorbetreiber einreichen müssen, 6000 Seiten dick sein. Durch diverse Nachfragen zog sich der Prozess in die Länge, der Stapel wurde dreieinhalbmal so hoch.

Und selbst jetzt, da die Bewerbungen vieler Kraftwerke erfolgreich waren, werden die Meiler nicht hochgefahren. Bei etlichen Kraftwerken fehlt nur noch jemand, der den Schalter umlegt und dafür gerade steht. Das könnte der Gouverneur der Präfektur Kagoshima sein, Yuichiro Ito, der immerhin ein erklärter Freund der Atomkraft ist. Oder ein führender Manager von Stromversorger Kyushu Electric. Auch Premierminister Abe, der in Tokios nationalem Parlament die einzige Partei anführt, die auch langfristig nicht von der Atomkraft absehen will, könnte so etwas anordnen. Aber in beiden Lagern sehen sie: Es traut sich niemand.

Die Sicherheitsstandards werden schon wieder gelockert

Zuviel ist nach der Atomkatastrophe von Fukushima vertuscht und gelogen worden, zu stark ist das Misstrauen der Bevölkerung. „Wenn ein Reaktor läuft und es das kleinste Problem gibt, wird das ein Riesenskandal“, sagt die Kommunistin Makoto Matsuzaki. Jede Kleinigkeit hat sie dokumentiert. Die Ordner stapeln sich bis zur Decke.

Unterdessen werden die verschärften Sicherheitsregeln schon wieder gelockert. Vor der Katastrophe mussten im Acht-Kilometer-Radius eines jeden Kraftwerks Krankenhäuser, Schulen und Pflegeheime detaillierte Pläne für eine Evakuierung ausarbeiten. Nach Fukushima wurde der Umkreis auf 30 Kilometer erweitert. In Satsumasendai aber befand die Präfekturregierung, dass dies nicht realisierbar sei. Nun haben nur zwei von 85 medizinischen Einrichtungen und 15 von 159 Pflegeinstituten Evakuierungspläne aufgestellt.

Am Morgen steht Masaki Tsukada, der Sozialdemokrat aus der Stadtregierung, mit den anderen Atomgegnern wieder vor dem Kraftwerk. Auch Makoto Matsuzaki, die Kommunistin, ist da, verteilt Flugblätter, die über den sogenannten Sicherheitsmythos aufklären sollen. „Was, wenn die Reaktoren nicht sicher sind?“, brüllt eine Aktivisten durch ihr Megafon. Die Demonstrationen konnten den Neustart nicht verhindern. Nach einem vorsichtigen Start soll ab September das Kraftwerk wieder mit voller Kapaziät produzieren. Dennoch haben die Aktivisten bald eine neue Chance. Nach 13 Monaten muss der Reaktor für Sicherheitschecks wieder einen Monat lang stillliegen. „Dann geht der Kampf weiter“, sagt Makoto Matsuzaki.

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