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Spritzen für den Suizid: Schwer kranke, sterbewilligen Patienten dürfen eine tödliche Dosis Betäubungsmittel erhalten.

© dpa/Kay Nietfeld

Nach Grundsatzurteil: Wer entscheidet nun über Sterbehilfe in Deutschland?

Das Bundesverwaltungsgericht hat vergangene Woche die Begleitung zum Suizid in extremen Einzelfällen erlaubt. Jetzt gibt es einen neuen Antrag. Eine Analyse.

Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Anspruch schwer kranker Patienten auf Sterbehilfe mit einem tödlich wirkenden Betäubungsmittel liegt dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ein neuer Fall vor. Es gebe einen Antrag, mit dem die Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital beantragt worden sei, sagte ein Sprecher der Behörde dem Tagesspiegel. Es sei noch „keine Festlegung" getroffen worden, wann über den Antrag entschieden werde.

Die Bundesrichter hatten vergangenen Donnerstag geurteilt, dass der Zugang zu Medikamenten für eine schmerzlose Selbsttötung „in extremen Ausnahmesituationen" vom Staat nicht verwehrt werden darf. Angaben zu Alter, Geschlecht und Erkrankungen des Antragstellers machte die Behörde mit Rücksicht auf den Patienten nicht.

Wie wird das Institut entscheiden?

Das ist völlig offen. Das BfArM ist zentral für die Zulassung und Registrierung von Arzneimitteln zuständig und wacht daneben auch über den legalen Verkehr mit Betäubungsmitteln. Es arbeiten dort neben Pharmazeuten, Chemiker, Biologen und Juristen auch Ärzte. Sie sind es, die regelmäßig in der so genannten Bundesopiumstelle über Anträge auf die Abgabe von Betäubungsmitteln entscheiden.

Es ist möglich, dass die Behörde zunächst die schriftliche Urteilsbegründung des Bundesverwaltungsgerichts abwartet. „Aus Sicht des BfArM können weitere rechtliche Bewertungen zu einem Urteil dieser Tragweite nicht allein auf Basis einer Pressemitteilung erfolgen“, teilte die Behörde mit. Zudem stehe man in dieser Frage im Austausch mit dem Bundesgesundheitsministerium.

Was hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden?

Ursprünglich ging es um das Schicksal von Bettina Koch. Sie war 51 Jahre alt, als sie 2002 vor ihrer Haustür Einkäufe aus dem Auto holte und dabei so unglücklich stürzte, dass sie gegen einen Blumenkübel prallte und sich den Nacken brach. Die Folge war eine Querschnittslähmung vom Hals an abwärts. Die Frau musste beatmet werden. Trotz vollständiger Bewegungsunfähigkeit litt sie unter Krämpfen und Schmerzen. Ärzte bescheinigten ihr, in diesem Zustand noch lange leben zu müssen.

2004 beantragte die Frau beim BfArM 15 Gramm Natrium-Pentobarbital, um sich das Leben zu nehmen. Dies lehnte die Behörde ab, woraufhin sich Koch entschloss, mit ihrem Ehemann Ulrich in die Schweiz zu reisen, wo die Sterbehilfe-Gesetz liberaler sind. 2005 nahm sie sich dort mit dem Betäubungsmittel das Leben, unterstützt von der Sterbehilfeorganisation Dignitas.

Wie wirkt Natrium-Pentobarbital?

Das Mittel führt zur Bewusstlosigkeit und Atemlähmung. In geringen Dosen wurde die Substanz früher als Schlafmittel eingesetzt, heute werden damit Tiere eingeschläfert oder Epileptiker behandelt.

Warum endete der Fall nicht mit dem Tod von Bettina Koch?

Ehemann Ulrich hatte seiner Frau versprochen, die Auseinandersetzung mit dem BfArM fortzusetzen. Betäubungsmittel dürften nach Ansicht der Behörde nur herausgegeben werden, um Patienten medizinisch zu versorgen, für lebenserhaltende oder lebensverlängernde Maßnahmen, nicht jedoch für „lebensvernichtende Anwendungen“. Koch klagte sich erfolglos durch die Instanzen, um letztlich vom Bundesverwaltungsgericht feststellen zu lassen, dass der Ablehnungsbescheid des BfArM rechtswidrig war.

Wie gingen die Verfahren weiter?

Als Koch auch vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte, wandte er sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der urteilte 2012, dass der Kläger zumindest einen Anspruch habe, dass sich die Gerichte näher mit dem Fall befassten, statt die Abgabe pauschal abzulehnen. Koch zog erneut vor die deutschen Gerichte, verlor jedoch zunächst wiederum. Das BfArM habe zu Recht angenommen, dass die beantragte Erlaubnis nach den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zu versagen sei. Darin liege auch weder ein Verstoß gegen Grundrechte noch gegen Rechte und Freiheiten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Warum hat das Gericht jetzt anders entschieden?

Die Leipziger Richter sehen einen grundrechtlich verbürgten Anspruch. Der „Zugang zu einem Betäubungsmittel, das eine schmerzlose Selbsttötung ermöglicht, darf in extremen Ausnahmesituationen nicht verwehrt werden“, hieß es in der Mitteilung des Gerichts. Dies folge aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Die Ablehnung des BfArM sei rechtswidrig gewesen. Zwar sei es nach den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes ausgeschlossen, solche Mittel zum Zweck der Selbsttötung zu erwerben. „Hiervon ist im Lichte des genannten Selbstbestimmungsrechts in Extremfällen eine Ausnahme für schwer und unheilbar kranke Patienten zu machen, wenn sie wegen ihrer unerträglichen Leidenssituation frei und ernsthaft entschieden haben, ihr Leben beenden zu wollen“, hieß es jedoch weiter. Das BfArM hätte prüfen müssen, ob es sich bei Bettina Koch um so einen Ausnahmefall gehandelt habe.

Was bedeutet das Urteil für die Zukunft der Sterbehilfe?

Um Sterbehilfe im engeren Sinne geht es nicht, sondern um die so genannte Suizidhilfe oder Suizidassistenz. Beihilfe zur Selbsttötung ist nach deutschem Recht straflos. Ob es einen Dammbruch gibt, wird die Zukunft erweisen. Dass es bisher nur einen einzigen neuen Antrag gibt, spricht eher dagegen. Juristisch wird die Debatte aber unter neuen Vorzeichen geführt werden müssen. Das Urteil ist rechtskräftig, der beklagten Behörde ist der Gang vor das Bundesverfassungsgericht verschlossen, da Behörden keine Grundrechtsträger sind.

Daher gilt, was die Leipziger Richter sagen: Im „extremen Ausnahmefall“ kann das BfArM jetzt gezwungen sein, eine Erwerbserlaubnis zu erteilen. Nötig wird dafür aber ein Zustand der Patienten sein, der ein Weiterleben unerträglich erscheinen lässt. Was genau die Richter meinen, werden sie im schriftlichen Urteil deutlicher machen müssen. Möglich ist, dass hierbei auch psychische Leiden zu berücksichtigen sind. Patienten, die keine Schmerzen haben, aber aufgrund etwa von Lähmungen zu absoluter Passivität verdammt sind, so dass ihnen ihr Dasein täglich als Strafe vorkommt, könnten vielleicht auch als „Ausnahmefall“ erfasst werden. Diskutiert werden muss auch, ob die Kosten dafür von den Krankenkassen übernommen werden sollen oder können.

Wie verträgt sich das Urteil mit dem neuen Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe?

Das eine schließt das andere nicht aus. Im November 2015 hatte der Bundestag nach langen Debatten einen neuen Paragrafen 217 im Strafgesetzbuch beschlossen. Wer die Selbsttötung „geschäftsmäßig“ fördert und dazu „Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt“, kann mit Haft bis zu drei Jahren bestraft werden.

Das neue und umstrittene Gesetz zielt auf private Organisationen wie etwa Dignitas, die Bettina Koch beim Suizid halfen. Staatliche Stellen sind jedoch nicht betroffen, da ihre Vertreter nicht „geschäftsmäßig“ handeln würden. Ein Erwerb der Mittel auf legalem Wege würde im Einzelfall deshalb wohl nicht gegen das Gesetz verstoßen. Anders könnte der Fall liegen, wenn sich Organisationen einschalten, um den legalen Erwerb zu unterstützen.

Wie könnte die Abgabe tödlicher Medikamente in Zukunft aussehen?

Rechtlich wäre es bereits jetzt möglich, dass Ärzte eine tödliche Dosis Betäubungsmittel verschreiben. Die Chemikalie Natrium-Pentobarbital besteht aus Natriumsalz und dem Stoff Pentobarbital, der als verschreibungsfähig angesehen wird und in der Anlage zum Betäubungsmittelgesetz gelistet ist. Jedoch verbieten die ärztlichen Berufsordnungen überwiegend den Ärzten die Verschreibung oder Anwendung von Natrium-Pentobarbital oder Stoffen ähnlicher Wirkungsweise zum Zwecke der Selbsttötung.

Wie reagieren Politik und Verbände?

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), die katholischen Bischöfe, die Bundesärztekammer und medizinische Verbände haben das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Teil heftig kritisiert. Der Staat dürfe nicht über Leben und Tod entscheiden, erklärten sie.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand, der wesentlich am Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe mitgewirkt hatte, sagte, die Anforderungen des Urteils seien nicht umsetzbar. „Der Staat kann nicht verpflichtet werden, sich an der Durchführung eines Suizids zu beteiligen. Das wäre ein Bruch mit unserer Werteordnung und widerspräche allen Anstrengungen zum Lebensschutz und der Suizidprävention.“ Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) sprach von einem „Schritt in die falsche Richtung“. Der Humanistische Verband begrüßte dagegen den Richterspruch.

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