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Fassungslosigkeit und Trauer. In Newtown gedenken die Menschen der Opfer des Amoklaufs.

© dpa

Nach Newtown, Winnenden und Erfurt: Wie Deutschlands Schulen vor Amokläufen zu schützen sind

Auch Deutschland kennt den Schrecken von Amokläufen an Schulen. Immer wurden danach die Rufe nach mehr Sicherheit laut. Wie sind die Einrichtungen heute auf solche Taten vorbereitet?

Nach dem Amoklauf in Newtown wird auch in Deutschland wieder darüber diskutiert, wie Gewalttaten in Schulen verhindert werden können. Nach dem Amoklauf von Erfurt im Jahr 2002 mit 17 Toten entwickelten Experten der Länderpolizeien gemeinsam mit Lehrern und Rettungsdiensten Konzepte, um Amoktätern wirkungsvoll begegnen zu können. Die Konzepte wurden allerdings in einigen Ländern nur zögerlich umgesetzt – Berlin führte beispielsweise erst 2008 Trainings für die Beamten des Streifendienstes ein. Insgesamt sind nach Experteneinschätzungen nur rund 30 Prozent der Schulen ausreichend auf ein solches Schulattentat vorbereitet.

Was sehen die Konzepte konkret vor?

Wesentliches Merkmal der Konzepte ist die Prävention. Aus Forschungen der US-Behörden wurden so beispielsweise Täterprofile erstellt und den Lehrkräften Hinweise gegeben, auf welche Merkmale und Äußerungen sie bei ihren Schülern achten müssen. So waren viele Täter vor ihrer Tat extrem zurückgezogen – regelrecht isoliert – und äußerten Selbstmordgedanken oder hinterließen im Netz Hinweise auf ihre Gewaltfantasien. Mit erhöhter Sensibilität in solchen Fällen kann frühzeitiger auf Jugendliche zugegangen und eine Tat möglicherweise noch in der Planungsphase verhindert werden.

Außerdem wurden den Schulen zahlreiche bauliche Maßnahmen empfohlen, beispielsweise Änderungen an den Türen (Türklinken, die sich nur von innen öffnen lassen) und dem Inventar. Vergleichbar einem Feueralarm in der Schule wurden konkrete Verhaltensregeln erstellt: Die unverzügliche Alarmierung aller Lehrkräfte über Lautsprecheranlagen mit vorab vereinbartem Stichwort. Im Fall des Amoklaufs von Winnenden warnte die von der Polizei entwickelte Lautsprecherdurchsage „Frau Koma kommt!“ die Lehrer vor dem Täter, viele Schüler konnten noch in Sicherheit gebracht werden.

Im Fall eines Amoklaufs sollen sich Lehrer mit ihren Schüler unverzüglich in den Klassenräumen einschließen und auf die Polizei warten. Ebenfalls sollen die Lehrer Schüler, die sich auf den Gängen aufhalten, sofort in die nächstgelegenen Räume bringen. Es soll dem Täter so erschwert werden, Opfer zu finden.

Bei der Polizei werden zudem auch „normale Streifenbeamte“ für Amokeinsätze geschult, denn es soll bei einem solchen Einsatz nicht mehr auf Spezialeinheiten gewartet und so wertvolle Zeit vergeudet werden müssen. Die ersten eintreffenden Beamten sollen in der Lage sein, den Täter zu stellen und am weiteren Töten zu hindern.

Was kann ein solcher Plan bewirken?

Gerade das aktuelle Beispiel des Amoklaufs von Newtown zeigt nach Einschätzung von Experten den Wert solcher Vorbereitungsmaßnahmen. Diese haben vielen Kindern und Lehrern der Sandy- Hook-Grundschule das Leben gerettet.

Unmittelbar nachdem der Täter zu schießen begonnen hatte, schlossen sich die Lehrkräfte mit ihren Schülern ein. „Sie verhielten sich lehrbuchmäßig“, sagt Polizeitrainer Bernd P. (Name aus Sicherheitsgründen abgekürzt), viele Jahre Ausbilder bei einem deutschen Sondereinsatzkommando. Ein solches Verhalten werde in den Amoktrainings gelehrt. Der so genannte „lock down“ – alle Türen werden sofort abgeschlossen, Lehrer und Schüler gehen in Deckung – ist überlebenswichtig. Wie sie es gelernt hatten, harrten die Grundschüler und Lehrer in Newtown dann in den Räumen aus, bis sie von der Polizei schließlich aus dem Gebäude geführt wurden.

Auch die Polizei habe sich vorbildlich verhalten, so der Ausbilder. „Die Kinder mussten sich anfassen und wurden dann in einer Reihe aus der Schule geleitet. Zusätzlich ließ man die Kinder mit geschlossenen Augen durch die Schule gehen, damit sie die Leichen nicht sehen und traumatisiert werden“, sagt Bernd P. Diese Leistung der Lehrerin und der Polizistin sei „großartig“ gewesen.

Wie gut läuft die Umsetzung der Amokkonzepte in Deutschland?

Es gibt keine bundesweiten Zahlen zur Umsetzung der Konzepte, weil sowohl Polizeiarbeit, als auch Schulpolitik Ländersache sind. Doch aus den Ländern gibt es zahlreiche Berichte, die belegen, dass die Konzepte keinesfalls bereits bundesweit Standard sind. Das größte Problem sind die Kosten. Viele Schulen sind nicht in der Lage, die notwendigen baulichen Veränderungen vorzunehmen: Von außen unzugängliche Türknäufe kosten ebenso viel Geld wie spezielle Lautsprecheranlagen zur Alarmierung.

Aus Niedersachsen sind beispielsweise Fälle bekannt, in denen Schulen lediglich pre-paid-Mobiltelefone zur Verfügung gestellt wurden. Die Überlegung war, dass die Lehrer im Falle eines Amoklaufs miteinander telefonieren können. Ein Schulleiter, der anonym bleiben möchte, kritisiert: „Wir haben lediglich Telefone erhalten, für andere Sicherheitsmaßnahmen gibt es kein Geld. Auch für eine Zusammenarbeit mit der Polizei gibt es keine Mittel, wir hatten bisher nicht einmal Seminare dazu.“ Auch andere Schulen berichten, es gebe keine Zusammenarbeit mit der Polizei. In Hannover wurde dieses Jahr sogar die sonst übliche Präventionsarbeit für Schüler im Zusammenhang mit Jugendkriminalität aufgegeben: „An unserer Schule gibt es das jetzt nicht mehr“, berichtet eine Lehrkraft. „Die Polizei hat mitgeteilt, dass es dafür kein Geld mehr gäbe und man sparen müsse. Wir bedauern dies sehr.“

Aber auch die Zusammenarbeit mit Schulen sei in vielen Bundesländern problematisch, heißt es aus Polizeikreisen. Bernd P. kritisiert: „Wir haben seit Erfurt einen Paradigmenwechsel, der sich bei den Schulen leider noch nicht so durchgesetzt hat, wie wir uns das wünschen. Bisher schätzen wir, dass weniger als die Hälfte der Schulen, vielleicht 30 Prozent, sich ausreichend vorbereitet hat.“

Es fehle in extrem vielen Fällen noch an der Sensibilisierung, sagt Bernd P. Dass zum Beispiel Polizisten an Schulen üben und sich dadurch Ortskenntnisse erarbeiten können – wie in den USA bereits üblich –, ist weiterhin die Ausnahme in Deutschland. Als ein Polizeiausbilder in Schleswig-Holstein versuchte, eine Schule für ein solches Projekt zu gewinnen, lehnte die Schulleitung ab: Man fürchtete mögliche Schäden am Schulinventar.

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