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Der türkische Regierungschef Erdogan vermisst nach dem Massaker von Norwegen in Europa eine Diskussion über den „christlichen Terror“.

© AFP

Nach Norwegen-Massaker: Erdogan will Debatte über „christlichen Terror“

Er sei ein "guter Christ und Tempelritter und gleichzeitig ein Terrorist" gewesen, sagt der türkische Regierungschef Erdogan über Norwegen-Attentäter Breivik.

Dass im Westen routinemäßig vom „islamischen Terror“ die Rede ist, geht dem türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan schon lange gegen den Strich. Nach dem Massaker von Norwegen vermisst Erdogan nun in Europa eine Diskussion über den „christlichen Terror“ – die Europäer wichen dieser Debatte aus, sagt er. Dabei sei der Täter von Oslo doch ein „guter Christ und Tempelritter und gleichzeitig ein Terrorist“. Nicht nur rhetorisch will die Türkei den Spieß umdrehen: So wie europäische Politiker die Menschenrechtslage in der Türkei begutachten, will ein Ausschuss des türkischen Parlamentes nun die „Islamophobie“ in Europa unter die Lupe nehmen.

Ausführlich befassten sich die türkischen Medien nach der Bluttat des Anders Behring Breivik in den vergangenen Tagen mit den anti-islamischen und anti-türkischen Aufzeichnungen des Gewalttäters. Sein Manifest soll Hinweise darauf enthalten, dass Breivik die Türkei ganz besonders hasst.

Das rote Kreuz der Tempelritter, denen sich Breivik zugehörig fühlt, prangte auf den Titelseiten der Zeitungen – wobei das Symbol des Templer-Kreuzes, der Begriff der Tempelritter und die damit verbundene Erinnerung an die Kreuzzüge des Mittelalters in der muslimischen Türkei ganz andere Assoziationen wecken als in Europa. Die Kreuzfahrer gelten in der islamischen Welt als rücksichtslose Aggressoren und fanatisierte Amokläufer. Als US-Präsident George Bush nach den Anschlägen von 2001 einen „Kreuzzug“ gegen den Terror ausrief, stieß dies in der Türkei und anderen muslimischen Staaten auf helle Empörung.

Manche haben den Westen bis heute im Verdacht, sich von seinem tiefen Misstrauen dem Islam gegenüber zu einer Gleichsetzung von Islam und Gewalt verleiten zu lassen. Erdogan, ein frommer Muslim, gehört zweifellos zu dieser Gruppe. Schon nach den von einer türkischen Al-Kaida-Zelle verübten Anschlägen auf Synagogen und britische Einrichtungen im November 2003 weigerte sich der türkische Regierungschef, von „islamistischem Terror“ zu reden. „Terror hat keine Religion“, lautet sein Credo. Wer im Namen des Islam morde, der missbrauche den Glauben.

Auch das Massaker von Oslo sei im Westen zunächst als Tat des „islamistischen Terrorismus“ bezeichnet worden, obwohl der Täter nichts mit dem Islam zu tun habe, beklagte Erdogan nun auf der Heimreise von einem Besuch in Aserbaidschan im Gespräch mit mitreisenden türkischen Journalisten. „Zuerst kam der Antisemitismus, dann die Islamophobie, und jetzt reden sie über islamistischen Terror“, sagte Erdogan. „Aber niemand redet (nach dem Massaker von Oslo) von christlichem Terror“, fügte er hinzu. „Sie drücken sich“, sagte er über die Europäer. „Oder haben Sie schon einmal von christlichem Terror gehört?“

Lesen Sie mehr im zweiten Teil.

Nach Oslo sollten die Christen in aller Welt ihre Lehren aus dem Massaker ziehen und einmal über folgende Frage nachdenken, sagte Erdogan: "Warum greifen wir die Muslime so sehr an?" Er nannte Frankreich, das eine EU-Mitgliedschaft der Türkei strikt ablehnt, und die Niederlande, die seit einiger Zeit einen Aufschwung des Rechtspopulismus erleben, als Beispiele für europäische Länder, in denen es „rassistische Strömungen“ gebe. Das Christentum werde insbesondere gegen die Türken in Stellung gebracht, sagte er mit Blick auf das Argument europäischer Rechtsparteien, die Türkei gehöre kulturell nicht zu Europa. Auch über ihn selbst werde so einiges geschrieben, sagte Erdogan.

Rechtspopulistische Tendenzen in EU-Staaten sind in Ankara derzeit ein großes Thema. Die Türkei, die sich seit Jahren die Kritik europäischer Politiker an Menschenrechtsdefiziten im Land rechtfertigen muss, will nun ihrerseits auf Mängel in Europa aufmerksam machen. So will sich der Menschenrechtsauschuss im türkischen Parlament das Massaker von Oslo genauer ansehen. Meldungen über tödliche Polizeigewalt gegen muslimische Häftlinge in europäischen Gefängnissen wollen die Abgeordneten ebenfalls nachgehen.

In diesen Plänen spiegelt sich das neue Selbstbewusstsein der Türkei gegenüber dem Westen und der EU. Der Aufstieg des Landes zur nahöstlichen Regionalmacht und der seit Jahren anhaltende Wirtschaftsaufschwung haben den Stellenwert der EU in der Ankaraner Außenpolitik sinken lassen. Erst vor zehn Tagen kündigte Erdogan an, die Beziehungen der Türkei zur EU würden im kommenden Jahr wegen des ungelösten Zypern-Konflikts sechs Monate lang eingefroren. Was die Europäer von den neuen türkischen Zielsetzungen halten, interessiert in Ankara nur noch wenige.

Selbst türkische Beobachter, die nicht zu Erdogans Anhängern gehören, stimmen der Forderung des Ministerpräsidenten nach einer selbstkritischen Debatte des Westens nach dem Massaker von Oslo zu. So wie es in der Türkei rechtsgerichtete Anhänger der Mörder des armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink gebe, liefen in Europa zweifellos „tausende Rechtsradikale“ herum, die Breiviks Aktion guthießen, schrieb der Kolumnist Semih Idiz. Der Westen könne sich „nicht mehr den Luxus leisten, ausländer-feindliche und insbesondere muslim-feindliche Organisationen und Personen auf die leichte Schulter zu nehmen“.

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